Bozen – Griechenland ist die Wiege der Demokratie, aber auch der abendländischen Kultur. Und die Griechen sind ein sympathisches Völkchen: lebenslustig, freundlich, spontan. Aber die Griechen haben in den letzten 30 Jahren gelebt wie die Grillen, sorglos und ein wenig realitätsfern. Und deshalb haben sie jetzt ein Problem – und machen uns bewusst, dass die EU ein Problemfall ist.
Griechenland wurde 1981 in die heutige EU aufgenommen und hat bis 2013 rund 83 Milliarden Euro aus Brüsseler Töpfen erhalten. Gleichzeitig gab der Staat ständig weit mehr Geld aus, als er einnahm. Beim Beitritt Griechenlands zur EU 1981 betrug die Staatsverschuldung etwa 30 Prozent des BIP, 1990 waren es schon 80 Prozent, wenige Jahre später 100 Prozent. Die wechselnden sozialistischen und konservativen Regierungen erkauften Wachstum und Wählerstimmen durch eine Aufblähung des öffentlichen Dienstes, durch freigiebige Rentenzahlungen und die Finanzierung nicht wettbewerbsfähiger Staatsbetriebe. Auch als die Märkte Athen neues Geld verweigerten und horrende Zinsen verlangten, reagierte die Politik nicht mit Reformen wie etwa dem Aufbau eines funktionierenden Steuerwesens, dem Umbau des großzügigen Rentensystem oder einer Diät für die aufgeblähte und ineffiziente Verwaltung, sondern drängte mit getürkten Zahlen in die Währungsunion. Mit dem Euro war Griechenland wieder kreditwürdig – bis die Wirtschaftskrise kam und das Desaster offenkundig wurde. Der IWF, die EZB und die Partnerländer sprangen in zwei Tranchen mit zusammen 250 Milliarden ein, und sie haben damit keinesfalls lediglich französischen und deutschen Banken geholfen, die zusammen über 50 Milliarden Euro in griechische Anleihen gesteckt hatten, sondern sie haben einen Zusammenbruch aller griechischen Banken und des griechischen Staates verhindert. Und nicht vergessen werden darf, dass es auch einen Schuldenschnitt von Privatgläubigern in Höhe von etwa 100 Milliarden gegeben hat. Zugleich wurde Griechenland unter Kuratel genommen, und die sogenannte Troika aus EZB, IWF und EU dekretierte Spar- und Reformauflagen (wie sie die EZB de facto auch Italien gemacht hat). Das Sparen hat aber in einem Land, das zu lange und zu stark von Staatsausgaben gelebt hat, nicht rasch Wirkung gezeigt, sondern das BIP weiter schrumpfen, die Arbeitslosigkeit steigen und die Armut wachsen lassen. Die Folge war der Wahlsieg der Linkspartei Syriza und ihres Chefs Alexis Tsipras. Dahinter stand das Versprechen, sich dem Sparkurs der Troika nicht mehr zu beugen, manche als sozial untragbar eingestufte Reformen zurückzunehmen und neues Geld zu verlangen, um die Wirtschaft ankurbeln zu können (mit neuen Staatsausgaben?). „Für das Volk – gegen das Kapital“ lautet das Schlagwort. Und da die Partnerstaaten die Spar- und Reformpläne der griechischen Regierung als unzureichend ablehnten und die letzte Tranche des Hilfspaketes nicht auszahlten, ist Athen seit Ende Juni de facto zahlungsunfähig. Die Griechen aber haben Tsipras bei der Volksabstimmung am vergangenen Sonntag in der Haltung den Rücken gestärkt, keine weiteren Zugeständnisse an die Geldgeber zu machen. In diesen Tagen zeigt sich, ob Athen doch noch Reform- und Sparvorschläge vorlegt, die neue Hilfen erschließen oder ob ein Staatsbankrott und ein Grexit, ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion, die Folge sind.
Das, was geschehen ist, macht die ganze Schwäche Europas und der Eurostaaten deutlich. Es bestehen gegensätzliche Vorstellungen darüber, wie Staaten ihre Probleme lösen können, über das Gewicht europäischer Regeln bezüglich Verschuldung, Haftung oder Stabilität und über das Ausmaß an Solidarität zwischen den Staaten und Völkern. Die einen fühlen sich als Zahlmeister missbraucht, die anderen von den Nutznießern der Union im Stich gelassen. In dieser Lage wird der populäre Ruf nach einzelstaatlicher Souveränität wieder lauter, das nationale Interesse wird beschworen und die Europafahne versinkt in einem Meer von Nationalflaggen. Wieder einmal zeigt sich: In guten Tagen hält jede Ehe einen Streit aus, in schlechten Zeiten aber meinen Partner, die Probleme alleine besser meistern zu können.
Europa braucht jetzt zwei Dinge, damit das Gemeinschaftsprojekt nicht den Bach runtergeht: eine Schuldenkonferenz (denn auch die Schulden anderer EU-Staaten sind unter den gegebenen Bedingungen kaum tragbar) und eine Überarbeitung der EU-Verträge mit einer einheitlichen Finanz-, Steuer-, Einwanderungs- und wohl auch Außenpolitik. Sonst droht eine Spaltung in ein nordisches und ein mediterranes Lager – mit einem Frankreich, das noch nicht weiß, ob es zusammen mit Deutschland den Norden anführen oder eine dominante Rolle im Süden einnehmen will.
Der „alte Kontinent“, wie der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Europa einst verächtlich genannt hat, muss sich neu erfinden.