Bozen – Eine Gesellschaft ist dann sozial mobil bzw. durchlässig, wenn deren Bürgerinnen und Bürger echte Chancen haben, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Doch wie schwer ist es in Südtirol, die soziale Leiter hochzuklettern? Sind wir das Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder müssen wir von einem Land der eingeschränkten Entwicklungschancen sprechen?
Diesen Fragen sind Eurac Research und das Arbeitsförderungsinstitut AFI nachgegangen und haben im Frühjahr 2022 1.500 Südtiroler:innen zwischen 25 und 74 Jahren zu Bildungsabschluss, beruflicher und wirtschaftlicher Stellung telefonisch befragt – und zwar nicht nur mit Blick auf die befragte Person selbst, sondern auch auf deren Eltern. Die breite Streuung des Alters der Zielbevölkerung erlaubte dabei, zwischen den drei Generationen der Babyboomer (Jahrgänge von 1948 bis 1965), Generation X (1966—1979) und Millennials (1980—1997) zu unterscheiden, was Schlüsse zulässt, ob bzw. wie sich die Situation mit der Zeit verändert hat.
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts wurden heute auf einer Tagung im Palais Widmann von den Hauptautoren Felix Windegger (Forscher am Center for Advanced Studies, Eurac Research) und Silva Vogliotti (ex AFI-Vizedirektorin) vorgestellt. Die sich daraus ableitenden politischen Maßnahmen wurden von Stefan Perini (AFI-Direktor) sowie Harald Pechlaner (Leiter des Center for Advanced Studies, Eurac Research) präsentiert.
Bildung: Immer höhere Bildungsgrade
Was das Thema Bildung anbelangt, haben strukturelle Wandlungsprozesse im Bildungssystem zu einer Erhöhung des durchschnittlichen Bildungsniveaus geführt. Will heißen: Im Vergleich der drei Generationen kam es über die Zeit zu einer steten Zunahme des Anteils von Menschen mit Matura bzw. Hochschulabschluss. Trotz des insgesamt gestiegenen Bildungsniveaus ist allerdings die Chance, einen hohen Bildungsgrad zu erreichen, größer, wenn mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss besitzt. Diese Tendenz ist unter den jüngeren Generationen etwas weniger markant, allerdings immer noch präsent.
Insgesamt ist es 32,1 Prozent der Befragten gelungen, die eigene berufliche Position im Vergleich zu ihren Eltern zu verbessern, 19 Prozent sind abgestiegen
Beruf: Berufliche Positionen werden vererbt
Der Mittelstand ist in der Generation der Millennials im Vergleich zu den vorhergehenden Generationen deutlich geschrumpft. So zeichnet sich die „sanduhrförmige“ Beschäftigungsstruktur der Millennials durch eine hohe Anzahl von Beschäftigten in den oberen (high class) und unteren Berufsklassen (working class) aus, während die Anzahl der Beschäftigten in der Mittelschicht (middle class) vergleichsweise gering ist. Insgesamt ist es 32,1 Prozent der Befragten gelungen, die eigene berufliche Position im Vergleich zu ihren Eltern zu verbessern, 19 Prozent sind abgestiegen. Der Anteil der sozial immobilen Personen – also jener, deren berufliche Stellung sich im Vergleich zu den Eltern nicht verändert hat – ist im Laufe der Generationen leicht gestiegen.
Eine hohe absolute soziale Mobilität bedeutet aber nicht unbedingt eine sozial durchlässige Gesellschaft, da sie wesentlich auf Veränderungen in der Arbeitsmarktstruktur zurückzuführen ist. Die relative soziale Mobilität hingegen zeigt, dass auch in Südtirol die Chancen einer Person, in einer bestimmten Berufsklasse zu landen, immer noch von der Berufsklasse der Eltern abhängen. Kinder von Führungskräften etwa haben im Vergleich zu Kindern anderer sozialer Herkunft eine beinahe sechsmal so hohe Chance, selbst Führungskräfte zu werden.
Finanzielles Auskommen: Wirtschaftliche Lage hat sich verbessert
Die wirtschaftliche Lage der Bürgerinnen und Bürger in Südtirol hat sich – laut Eigeneinschätzung der Befragten – in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. 42,7 Prozent der Befragten gaben an, dass sie heute ein einfacheres Auskommen mit dem Haushaltseinkommen hätten, als das in ihrer Familie der Fall war, als sie 14 Jahre alt waren. Nur 16,5 Prozent kommen heute in ihrem Haushalt schwieriger über die Runden als das in ihrem Elternhaus der Fall war. Des Weiteren zeigt sich ein Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad der befragten Personen und ihrem finanziellen Auskommen. Je höher die erreichte Bildungsstufe, desto einfacher kommen die Befragten über die Runden.
Handlungsempfehlungen: 87 mögliche Maßnahmen vorgestellt
Wie AFI-Direktor Stefan Perini betonte, hätten die Partnerinstitute einen 87-Punkte-Katalog erstellt, der sicherstellen soll, dass der soziale Aufzug gut in Schuss bleibt. Die einzelnen Interventionen lassen sich dabei in sieben Makrobereiche bündeln: Bildung, Familie, Soziale Inklusion, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Steuerpolitik und öffentliche Leistungen, urbane und ländliche Entwicklung.
Laut dem Leiter des Center for Advanced Studies, Harald Pechlaner, sei gezieltes politisches Handeln möglich (und notwendig), um die Chancengleichheit zu erhöhen. Dabei gelte es auch, bestimmte unerwünschte Arten der sozialen Mobilität, etwa das Risiko kurzfristiger Abstiege nach einer Krankheit, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer Trennung abzufedern.