Bozen /Stuttgart – Es war eine turbulente Zeit, als bei den Landtagswahlen von Baden-Württemberg im März 2011 die Grünen 24,2 Prozent der Stimmen erhielten. Die Protestmärsche wegen des teuren Bahnhofs- und Städtebauprojekts namens Stuttgart 21 (s. Infobox) ließen nicht nach, und die Nuklearkatastrophe von Fukushima hatte den Grünen einen ungeheuren Aufwind verliehen. So kam es, dass Winfried Kretschmann als erster Grüner Deutschlands zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes wurde. Bei seiner Wahl im Stuttgarter Landtag hatten sogar zwei Vertreter aus der Opposition von CDU und FDP für ihn gestimmt, obwohl das bürgerliche Lager die schlimmsten Befürchtungen hegte. Was bedeutet ein Grüner für den Wirtschaftsstandort?
Kretschmann war nicht immer das Landesväterchen, als der der 66-Jährige heute gilt. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ spricht ihn im März 2015 in einem Interview auf seine jungen Jahre an, als er für eine kommunistische Sekte aktiv war. Eine Akte des Verfassungsschutzes über ihn war publik geworden, aus der hervorgeht, dass man ihn deshalb vor fast 40 Jahren als Lehrer verhindern wollte. „Das geht mir bis heute nach: Wie kommt es, dass ein gebildeter Mensch auf einmal bei so einer Sekte landet?“, fragt er sich im Interview. Ein übertriebener Gerechtigkeitssinn hatte ihn angetrieben, lautet sein Fazit. Von seiner Verblendung aufgewacht zu sein, hat ihn geprägt. „Erst wenn man von der totalitären Erlösungsphantasie ablässt, die Welt retten zu wollen, wird man reif zur Politik und trägt dann womöglich etwas zu ihrer Rettung bei“, sagt er der „Zeit“ gegenüber.
Die Rettung der Welt sieht Kretschmann nun wohl auch im Erfolg der Wirtschaft, denn sie sei es, die innovative grüne Hightech-Produkte liefere. Mit seinen hochtechnologischen Unternehmen und deren sehr aktiven Forschung und Entwicklungsarbeit zählt Baden-Württemberg zu den innovativsten Regionen der EU.
Während er vor seiner Wahl davon sprach, weniger Autos zu wollen, sieht er die Zukunft nun in Autos mit niedrigem CO2 -Ausstoß. Autofeindlich dürfen in Baden-Württemberg selbst die Grünen nicht sein, sonst wird das Volk nervös, hatte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kurz nach Kretschmanns Wahl geschrieben. An die 200.000 Arbeitsplätze stellen Autohersteller und Zulieferer in Baden-Württemberg, allen voran die Daimler AG, und etwa gleich viele Arbeitsplätze hängen von der Autobranche ab. Deshalb hatte Kretschmann kein Problem damit, seinen neuen Hybrid-Dienstwagen der Marke Mercedes stolz herzuzeigen. „Der Dienstwagen meines Vorgängers stieß 340 Gramm CO2 aus, dieser Plug-in-Hybrid nur noch 65 Gramm – alles S-Klasse“, sagt er in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung „Handelsblatt“ im Mai 2015. Aber strengere Grenzwerte für Abgase lehnt er ab: „Dies würde nur die Industrie abwürgen und die Betriebe ins Ausland treiben“, sagt er weiter.
Stattdessen fährt er mit einer Unternehmensgruppe ins Silicon-Valley, „um den kalifornischen Spirit mitzubekommen.“ Er macht sich Sorgen um die Mittelständler in seinem Land, von denen knapp die Hälfte die Digitalisierung noch nicht in ihren Geschäftsmodellen integriert hat.
Kretschmann hat schließlich in Baden-Württemberg eine Allianz Industrie 4.0 gegründet – noch bevor auch der Bund in dieser Frage aktiv wurde. „Wir haben eine mindestens so starke Forschungslandschaft wie Kalifornien und haben ihr zugunsten gerade 1,7 Milliarden Euro draufgelegt. Der Bund steckt stattdessen sein Geld in die Rente mit 63“, sagt er dem „Handelsblatt“. Das ist eine überraschende Aussage aus dem Mund eines Grünen. Sein Ziel ist es, Wachstum vom Naturverbrauch zu entkoppeln, wie er im Interview mit der SWZ sagt (s. unten stehende Box). „Dabei ist die Wirtschaft unser natürlicher Verbündeter: Nur sie kann grüne Ideen umsetzen, Autos sauberer und Windräder billiger machen.“
Mittlerweile versucht Kretschmann, der grünen Bundespartei nach der letzten Wahlschlappe einen wirtschaftsfreundlicheren Anstrich zu geben und den linken Flügel rund um Jürgen Trittin an den Rand zu drängen. Der Zuspruch, den er immer wieder von allen Seiten, auch von der CDU, erfahren hat, treibt ihn an. „Wir werden eine Wirtschaftspartei 4.0“ erklärt er dem „Handelsblatt“ und unterstreicht den Zusammenhang zwischen Ökologie und digitaler Revolution.
Im kommenden Jahr wird Kretschmann die Wahlen laut aktuellen Hochrechnungen vermutlich nicht gewinnen, man erwartet sich eher einen Sieg der CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Guido Wolf. Doch auch er wird einen Koalitionspartner brauchen. „Schwarz-Grün ist in Baden-Württemberg mehr denn je denkbar“, sagt Wolfgang Wolf, der Geschäftsführer des Landesverbandes der Baden-Württembergischen Industrie, zu dessen Meinung zu Kretschmann ihn die SWZ ebenso befragte (s. Info 2). Die Erfahrungen, die das Nachbarbundesland Hessen seit einem Jahr mit einer schwarz-grünen Koalition macht, klingen bisher alles andere als negativ.
Für Südtirol interessant dürften diese Erfahrungen auch deshalb sein, weil ja Meran seit Kurzem mit Paul Rösch einen Bürgermeister hat, der auf einer zusammen mit den Grünen gebildeten Liste gewählt worden ist.
Info
Kurzinterview mit Winfried Kretschmann
„Es gibt eine Lernkurve“
SWZ: Herr Ministerpräsident, wenn man Ihre Realpolitik in Sachen Wirtschaftsförderung ansieht, könnte man zum Schluss kommen, dass es inzwischen keine regierungsfähige Politiker mehr geben dürfte, die nicht die Wirtschaft auf Händen tragen, ganz gleich aus welcher ideologischen Richtung sie kommen. Wie sehen Sie das?
Winfried Kretschmann: Die große Aufgabe unserer Zeit ist es, die wirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum vom Naturverbrauch zu entkoppeln und damit die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu beenden. Dies kann nur gemeinsam mit der Wirtschaft gelingen – ohne diese jedoch „auf Händen tragen“ zu wollen. Umwelttechnologien, Ressourcen- und Energieeffizienz oder smarte Technik sind für diese Ziele unabdingbar. Hierfür muss die Politik einen entsprechenden Ordnungsrahmen setzen, aber umsetzen können das nur die Unternehmen selber. Entscheidend ist der gegenseitige Respekt, ohne den ein erfolgreiches Regieren tatsächlich nicht vorstellbar ist. Im Übrigen setze ich darauf, dass Ideologie in der Politik eine möglichst geringe Rolle spielt.
Ihr Koalitionspapier ließ ja gleich nach der Wahl Schlimmstes befürchten. Ändert sich die Haltung, wenn man Regierungsverantwortung trägt?
Natürlich gibt es eine Lernkurve – es wäre ja schlimm, wenn Politiker nicht mehr dazulernen würden. Ich habe jedoch schon immer einen guten Austausch mit der Wirtschaft gesucht. Eher hatten Teile der Wirtschaft mit mir anfangs etwas gefremdelt. Manch einer hatte befürchtet, eine grüne Regierung brächte das Ende des erfolgreichen Standorts Baden-Württemberg mit sich. Diese Sorgen haben sich schnell in Luft aufgelöst.
Heute ist Baden-Württemberg Wachstumsmeister in Deutschland, wir haben mit Bayern die niedrigste Arbeitslosigkeit und europaweit die höchsten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Daneben haben wir massive Investitionen getätigt, um den Sanierungsstau abzubauen, und gleichzeitig dreimal einen Haushalt ohne neue Schulden geschafft. Diese Kennzahlen sind auch der Grund, weshalb Baden-Württemberg von ausländischen Unternehmen als besonders attraktiver Standort für Investitionen geschätzt wird. Immer mehr Firmen erkennen auch die Chancen, die die Wende zu einer ökologischen Marktwirtschaft bietet. Baden-Württemberg präsentiert sich weltweit als Marke, die für höchste Qualität und zunehmend auch für maximale Nachhaltigkeit steht. Ein grüner Ministerpräsident passt deshalb ideal zum Industrieland Baden-Württemberg.
Gibt es Entscheidungen im Zusammenhang mit der Wirtschaft, die Sie in Baden-Württemberg aus heutiger Sicht anders machen würden, wenn Sie 2016 nochmals zum Ministerpräsidenten gewählt würden?
Im Großen und Ganzen bin ich sehr zufrieden. Lernen musste ich, dass jeder Halbsatz von mir auf die Goldwaage gelegt wird. Als ich 2011 in einem Interview sagte „Weniger Autos sind besser als mehr“, war die Aufregung groß. Obwohl ich im nächsten Satz sagte, wir müssten in Zukunft Mobilitätskonzepte verkaufen und nicht nur Autos.
Warum glauben Sie, dass – trotz Ihrer Beliebtheit – die Wahlprognosen einen Sieg der CDU prognostizieren?
Antwort: Die große Mehrheit im Land ist mit dem Kurs der Landesregierung zufrieden. Eine Wechselstimmung ist für mich nicht erkennbar. Insofern sehe ich gute Aussichten, dass die Wählerinnen und Wähler uns wieder die Regierungsgeschäfte anvertrauen.
Wie stünden Sie zu einer schwarz-grünen Koalition?
Ich bin Ministerpräsident und möchte es bleiben. Wir treten ohne Wenn und Aber für die Fortsetzung der grün-roten Koalition ein.
Interview: Marina Giuri-Pernthaler
Kurzinterview mit Wolfgang Wolf, Industrieverband
„Unsere Grünen sind Realos“
Der Geschäftsführer des Landesverbandes der Baden-Württembergischen Industrie, Wolfgang Wolf, zu den Erfahrungen mit Winfried Kretschmann.
SWZ: Welche Auswirkungen hatte bisher die grüngeprägte Landesregierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf die Baden-Württembergische Wirtschaft?
Wolfgang Wolf: Zum Glück lässt sich die starke Industrie von Baden-Württemberg mit ihren innovativen Familienunternehmen nicht so schnell von einer neuen Landesregierung umhauen (lacht). Dennoch muss man sagen, dass unsere Innovationskraft etwas an Dynamik verloren hat – zum Teil auch aufgrund der Verordnungen, die von Berlin ausgehen. Die Grünen in Baden-Württemberg sind, anders als in Berlin, Realos. Sie sehen die Wirtschaft und die Prosperität des Mittelstandes nicht als Feind an. Doch als wir die grün-rote Koalitionsvereinbarung im Anschluss an Kretschmanns Wahl gesehen haben, sind wir zunächst schon erschrocken: Da war vom Umbau der Industriegesellschaft hin zur Ökologie die Rede. Verkehrspolitisch standen mehr die Fahrradwege im Vordergrund als der Erhalt der Straßen. Glücklicherweise wird auch in der Politik nicht alles so heiß gegessen wie gekocht. Die Haltung Kretschmanns, aber auch des Landesministers für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft, Franz Untersteller, sowie der Wissenschaftsministerin, Theresia Bauer, waren deutlich wirtschaftsfreundlicher als mancherorts erwartet.
Können Sie Beispiele nennen?
Beispielsweise im Zusammenhang mit dem Netzausbau, den es infolge der Energiewende für die Energie aus Windkraft braucht, waren wir stets auf einer Linie mit dem MP. Themen, die ihm bisher sehr am Herzen lagen, sind die Digitalisierung und die Industrie 4.0. Selbst bei kontroversen Fragen wie dem Freihandelsabkommen TTIP hat sich Kretschmann zunächst nicht festgelegt und stattdessen einen Beirat ins Leben gerufen, um zuerst die Für und Wider auf die Waagschale zu legen. Man muss sagen, dass er von der breiten Unternehmerschaft auch als Mensch geschätzt wird, weil er stets aufnahmefähig für neue Standpunkte ist. So hat er damals in einer sehr demokratischen Haltung das Ergebnis der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 akzeptiert. Er ist authentisch und verlässlich. Was nichts daran ändert, dass wir in einer Reihe von Sachthemen weiterhin deutlich unterschiedliche Positionen vertreten und sehr zäh um wirtschaftsfreundliche Entscheidungen ringen.
Würden Sie gern mit Kretschmann weiterarbeiten?
Nun, tatsächlich arbeiten wir mit Herrn Kretschmann schon seit vielen Jahren zusammen, in vielfältigen Funktionen, stets konstruktiv und respektvoll – daran wird sich auch künftig nichts ändern. Welche Rolle er dabei innehat, ist in erster Linie Sache des Wählers, und der LVI ist stets gut damit gefahren, keine Parteibücher, sondern Wahlprogramme zu lesen. Als Interessenvertretung der Industrie und der industrienahen Sektoren, die für zwei Drittel der Wertschöpfung in Baden-Württemberg stehen, läsen wir gerne von einer Ordnungspolitik mit weniger Eingriffen in die Wirtschaft, dafür mehr Rahmenbedingungen, die einen gewissen Spielraum zulassen – ob die Partei des Ministerpräsidenten, bei all seiner Realpolitik, dafür zu gewinnen ist, bleibt abzuwarten.
Es ist letzthin still geworden um das Verkehrs- und Städtebauprojekt der schwäbischen Hauptstadt, nachdem es jahrelang die Gemüter der Bevölkerung erhitzte. Zehntausende Menschen hatten in einem Protestmarsch 2011 ihre Ablehnung zum Ausdruck gebracht. Winfried Kretschmann ließ wenige Monate nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und einer Aufklärungskampagne das Volk über die finanzielle Beteiligung des Landes am Projekt abstimmen: Die Befürworter hatten mit 58,9 Prozent die Nase vorn. Das Projekt an und für sich konnte nicht Gegenstand einer Abstimmung sein, da der Bauherr die privatwirtschaftliche Deutsche Bahn AG ist. Das Projekt verlegt, unter anderem den Hauptbahnhof unter die Erde und die Zulaufstrecken in einen Tunnel – frei gewordene Gleisflächen werden der Stadtentwicklung zur Verfügung gestellt. Gewisse Parallelen zum Bozner Bahnhofsprojekt sind nicht zu übersehen. Sogar im Zusammenhang mit dem heißen Eisen Flugplatz Bozen könnte Stuttgart 21 als interessantes Beispiel dienen. Hoffentlich kann die noch unzureichende Aufklärung der Bevölkerung auch in Südtirol die Vernunft siegen lassen, wie es beim Projekt Stuttgart 21 der Fall war.