Zürich/Bozen – Die meisten Ökonom:innen gehen davon aus, dass die Inflation in der Europäischen Union weiter hoch bleiben und für einen längeren Zeitraum nicht auf die geldpolitisch angestrebten zwei Prozent sinken wird. Denn die hohen Energie- und Treibstoffpreise werden sich angesichts der Spannungen mit Russland kaum beruhigen – besonders im Hinblick auf die anstehende Heizperiode, in der der Bedarf an Gas und Heizöl stark steigt. Hinzu kommen anhaltende Rohstoff- und Lieferengpässe, die preistreibend wirken.
Das alles führt zu steigenden Produktions- und Dienstleistungskosten für die Unternehmen, die früher oder später an die Endverbraucher:innen weitergegeben werden.
In Südtirol kletterte die Inflation im Juli auf zehn Prozent (gegenüber dem Vorjahresmonat) und damit auf einen neuen Höchststand seit Beginn der starken Preissteigerungen vor einem Jahr. Italien vermeldet für den August eine geschätzte Inflation von 8,4 Prozent, in Deutschland sind es 7,9 Prozent und in Österreich 9,1 Prozent.
In der Eurozone betrug die Juli-Teuerungsrate im Schnitt 8,9 Prozent – Tendenz leicht steigend. Noch stärker steigen die Verbraucherpreise in Großbritannien mit einem Plus von 10,2 Prozent im August.
Bei all diesen hohen Zahlen bildet ein Land in Europa eine Ausnahme: Die Schweiz lässt mit einer vergleichsweise moderaten Inflationsrate von 3,5 Prozent aufhorchen. Zwar zeigt die Preiskurve in unserem Nachbarland seit dem letzten Jahr ebenfalls nach oben, jedoch sind drei Prozent durchaus verkraftbar – besonders im Vergleich zu den dramatischen Entwicklungen im restlichen Europa, die in der Schweiz kaum spürbar sind.
Warum ist das so? Was macht unser westlicher Nachbar anders bzw. besser? Der Schweizer Ökonom Lukas Rühli, einer der Forschungsleiter beim Think-Tank „Avenir Suisse“ in Zürich, nennt drei wesentliche Gründe.
Schutzmechanismus bei Lebensmittelpreisen

Erstens: die Regulierung des Lebensmittelmarktes. Lukas Rühli erklärt: „Die Preise sind in der Schweiz generell hoch – auch in den Nicht-Krisenzeiten. Dieser eigentlich negative Aspekt hilft uns jetzt etwas, denn bei den Lebensmittelpreisen fährt die Schweiz einen protektionistischen Kurs: Sie verzollt die importierten Lebensmittel an der Grenze zu einem flexiblen Prozentsatz, der an die Preisdifferenz zwischen In- und Ausland angepasst wird. Damit wird die inländische Landwirtschaft vor der Konkurrenz ausländischer Produkte geschützt.“
Hat das bisher zu sehr hohen Lebensmittelpreisen in der Schweiz geführt, so bringe es jetzt den Vorteil, dass der aktuelle Preisanstieg auf dem globalen Markt die Schweiz praktisch nicht betrifft. „Die Importsteuern werden einfach entsprechend gesenkt“, so Rühli.
Land der grünen Energie
Als zweiten Grund für die relativ niedrige Inflation in der Schweiz nennt der Ökonom die Energie. Zum einen werde in der Schweiz ein geringerer Teil des Einkommens für Energie ausgegeben als in anderen Ländern. Lukas Rühli erläutert: „Unser Wohlstand ist etwas höher, wir brauchen aber nicht entsprechend mehr Energie. Das bedeutet, dass der Anteil am Haushaltsbudget, der für Energie ausgegeben wird, in der Schweiz geringer ist. Somit wirkt sich ein Anstieg der Energiekosten nicht so stark auf das Preisniveau unseres durchschnittlichen Güterkorbs aus.“
Zum anderen habe die Schweiz einen besonders grünen Strommix. Laut Angaben des Schweizer Bundesamtes für Energie stammten im Jahr 2020 rund 76 Prozent des gelieferten Stroms aus erneuerbaren Energiequellen. 20 Prozent stammten aus Kernenergie und nicht einmal zwei Prozent aus fossilen Energieträgern.
Zum Vergleich: In Italien werden 42 Prozent des Stroms mit Erdgas produziert, dessen Preise bekanntlich explodiert sind.
„Die Schweiz“, erklärt Lukas Rühli, „ist nur im Winter auf Stromimporte angewiesen, weil die Wasserkraftwerke in den kalten Monaten nicht so viel Strom produzieren können. Das ist ein Nachteil des großen Wasserkraftanteils. Sind die Strompreise in Europa hoch, spüren wir das also auch, wenngleich in geringerem Ausmaß – nicht zuletzt, weil die Strompreise für kleinere Kunden hierzulande stark reguliert sind.“
Anders als das restliche Europa ist die Schweiz also nicht direkt von Russland und seinen Energieträgern abhängig. Ein großes Thema ist angesichts der nötigen Stromimporte im Winter allerdings ein möglicher Strommangel. Die Schweizer Politik hat deshalb beschlossen, kurzfristig Gas- und Ölkraftwerke aufzubauen, die im Notfall aktiviert werden können.
Starker Franken als Inflationsdämpfer
Der dritte wesentliche Grund für die niedrige Teuerungsrate ist der starke Schweizer Franken. Volkswirt Lukas Rühli weist darauf hin, dass die Schweiz deshalb generell eine niedrigere Inflation als Resteuropa hat: „Zwischen 2008 und Ende 2021, also über 13 Jahre lang, hatte die Schweiz unterm Strich null Inflation. Das war verbunden mit einer stetigen Aufwertung des Schweizer Franken.“
Die Währungsaufwertung hat gerade in den letzten Monaten neue Dimensionen erreicht. „Seit Ende Mai hat der Schweizer Franken gegenüber dem Euro um sechs Prozent zugelegt. Zum ersten Mal ist der Schweizer Franken mehr wert als der Euro“, betont Rühli. Das helfe dabei, die Inflation zu dämpfen.
Der Züricher Ökonom weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Inflation in Ländern wie Deutschland, Österreich oder auch Südtirol nicht in erster Linie hausgemacht, sondern hauptsächlich importiert sei. Die hohe Inflation könne zu einer unguten Dynamik führen – nämlich dann, wenn aufgrund des teureren Lebens der Druck steigt, die Löhne zu erhöhen, was wiederum zu höheren Produktionskosten führe.
Weil der Ursprung für die derzeitige Inflation der Import sei, komme der Schweiz die aufwertende Währung gelegen, sagt Lukas Rühli. Der aufwertende Franken mache Importe ständig günstiger.
Doch warum ist der Schweizer Franken gegenüber anderen Währungen so stark? „Es ist seit Jahrzehnten zu beobachten, dass der Schweizer Franken permanent aufwertet, weil das internationale Vertrauen in ihn sehr groß ist und er als sicherer Hafen gilt“, erklärt Lukas Rühli.
Er fügt hinzu: „Die Nationalbank hat aufgrund der hohen Nachfrage sehr viel Geld gedruckt. Das hat aber nicht zu Inflation geführt, weil dieses Geld nicht nur für Konsumausgaben im Umlauf ist, sondern aus Sicherheitsüberlegungen fast wie Gold gehortet wird – auch von ausländischen Akteuren.“