Frankfurt/Bozen – Kinder mit guten, ja besseren Ergebnissen unterrichten ist mit einem geringeren Aufwand und geringeren Kosten möglich, als es heute der Fall ist, wenn manche Methoden in Frage gestellt und neue Wege beschritten werden. Und: Eingesetzt werden können dafür auch Menschen ohne große Vorbildung, wenn nach festen Standards für die Schulstunden gearbeitet wird. Das war die Annahme, von der der genannte Artikel ausgeht – basierend auf der Erkenntnis, dass die Standardisierung von Prozessen große Vorteile bringen kann. Die Schnellrestaurantkette McDonald’s zum Beispiel schaffe es, rund um den Globus offensichtlich begehrte Nahrungsmittel in gleichbleibender Güte zu erschwinglichen Preisen bereitzustellen, ohne dass das Personal eine Kochausbildung absolviert hat. Standardisierung, so der Schluss, werde in vielen Geschäftsprozessen erfolgreich praktiziert, weil sie die Qualität eines Produktes unabhängig macht von Erfahrungen, volatilen Entscheidungen und der Urteilskraft einzelner Mitarbeiter. Folglich lautet eine der großen Fragen der Entwicklungsökonomie, „ob Standardisierung sich auch im Bildungswesen bewährt.“
Das Standardmodell einer Bildungsfirma
Dieses Thema, so der Artikel, gewinne aktuelle Bedeutung durch die “Bridge International Academies”, eine von Silicon-Valley-Entrepreneuren gegründete Bildungsfirma, die zum Zeitpunkt der nachstehend genannten Studie mehrere Hundert Privatschulen mit rund 100.000 Schülern und Schülerinnen in Afrika betrieb. Sie bietet Staaten dort erschwingliche Bildung an, indem sie mit hochstandardisierten Schulprogrammen arbeitet. Das sei, so die Zeitung, umstritten, weil diese Programme die Lehrer zu weisungsgebundenen Exekutoren detaillierter Vorgaben für die Unterrichtsvermittlung degradieren. „Die Denkschule dahinter steht im Kontrast zur weit verbreiteten Vorstellung, dass Lehrer die besten Bildungsergebnisse produzieren, wenn sie kreativ und empathisch auf jeden Schüler individuell einzugehen vermögen.“
Die Methode, Lehrer einem präzisen Drehbuch folgen zu lassen, sei allerdings umfassend und mit positivem Resultat getestet worden. Zuletzt hätten Forscher um Nobelpreisträger Michael Kremer die Ergebnisse „einer höchsten Ansprüchen genügenden Studie“ vorgelegt, die eindrucksvoll unterstreicht, wie überlegen Unterricht nach einem genau durchstrukturierten Ablaufplan sein kann im Vergleich zu gering vorstrukturiertem Unterricht. Dabei schreibt ein Computerprogramm für jeden Tag vor, was unterrichtet wird, wie der Stoff ermittelt wird und wie viele Minuten jedes Segment bekommt. Er dirigiert die Lehrer und sagt ihnen, wie häufig bestimmte Übungen wiederholt werden sollen. Die Direktoren überprüfen die Lehrer mittels digitalisierter Handbücher.
Ist das wirkungsvolle Bildung?
Vor sechs Jahren verloste die Schule laut FAZ 12.000 Stipendien für angehende Schüler:innen der Grundschule. Das ermöglichte es Kremer und seinen Kollegen, Vergleichsstudien zwischen Bridge-Absolventen und Schüler:innen anzustellen, die öffentliche Schulen besuchten. Das Ergebnis: Bridge-Schüler verfügten nach zwei Jahren schon über einen Bildungsstand, für den die Schüler:innen anderer Schulen fast drei Jahre brauchten. Am meisten profitierten schwächere Schüler vom Bridge-Programm. Dabei waren die Lehrer in den Bridge-Schulen laut dem zitieren Bericht weniger erfahren, jünger und schlechter bezahlt als ihre Berufskollegen in öffentlichen Schulen.
Dass sich auch mit ungenügend ausgebildeten Lehrpersonen ein Bildungsvorsprung erreichen lässt, „macht die Studie von Kremer und seinen Kollegen brisant“, schreibt die FAZ und teilt mit, dass Bridge das Geschäftsmodell geändert hat, denn das Anliegen sei nicht der Betrieb von Schulen, sondern die Vermittlung wirkungsvoller Bildung.
Zustimmende und entrüstete Kommentare
Der Artikel hat viel Aufmerksamkeit erregt und eine kontroverse Debatte ausgelöst. „Das Bildungssystem ist veraltet, agiert letztlich immer noch so wie vor 70 Jahren und bildet die jungen Menschen nicht zu kritischen, selbst denkenden Menschen aus. In zehn Jahren wird es kaum noch Lehrer geben, da Apps und zentral produzierte Lernvideos diese ersetzen werden. Und wenn die Lehrer sich ihre Welt immer noch schön reden wollen, im Sinne von ‚wir bringen den Schülern doch noch was anderes als Wissen bei‘, nur zu. Lehrer sollten sich warm anziehen und sich schleunigst fortbilden, aber das wird nicht passieren, weil sie die aktuelle Art der Lehre ganz toll finden“, schrieb ein Leser. Betroffene konterten: Die desolaten öffentlichen Schulen in Kenia könnten nicht mit Mitteleuropa verglichen werden. Ein Gymnasiallehrer schrieb: „Ich habe seit vielen Jahrzehnten Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen Formen der Didaktik und des Unterrichtens gemacht, und so wundert mich der nahezu hymnische Tonfall, das unkritische Lob des Schreibers angesichts einer Studie, die da das Hohelied der Standardisierung singt. Ja, es ist wahr: Wir können das Bildungsdurcheinander, das durch Lehrermangel und nicht bewältigte Digitalisierung u.v.a. mehr bewirkt wird, nicht bemänteln – und Standardisierung kann ein Mittel zur Ordnung und didaktischer Kohärenz sein. Unter anderem! Aber Schule ist so viel mehr als das Vermitteln eines Grundwissens: Wir fördern die Persönlichkeiten unserer Schüler:innen, bewältigen mit ihnen Krisen, schaffen einen gewissen Ausgleich zu häuslichen Defiziten, sorgen für einen freiheitlichen und kreativen Rahmen. Das ist auch der Grund für so viele schöpferische Leistungen unserer Schüler:innen später, für erstaunlich viele deutsche Patentanmeldungen im späteren Beruf, für hervorragende künstlerische Entwicklungen. Wo bitte soll der Vorteil des angeführten Bildungssystems liegen? Ich soll mir also von einem Computer in Minute 13 meiner Schulstunde, wo ich gerade ein soziales Problem mit löse oder mitten in einer Gedichtinterpretation einen interessanten Punkt herausarbeiten lasse, vorschreiben lassen, dass ich nun Thorben danach befrage, was ein Sonett ist – und später dann meiner Schulleiterin darüber gehorsam Bericht erstatten? Und das ist dann ein effektiverer, besserer Unterricht? Von den Autoren dieses positivistischen Beitrages hätte ich wesentlich mehr Fähigkeiten zum kritischen Umgang mit der erwähnten Studie erwartet.“
Das sind sicherlich berechtigte Einwände. Ihnen gegenüber steht die Tatsache, dass das Bildungsniveau und die Leistungsbereitschaft einer beunruhigenden Zahl von Absolventen an jedem Stresstest scheitern. Nicht von ungefähr sehen Universitäten heute für den Zugang zu manchen Fakultäten, wie etwa Medizin, eigene Tests vor, da sie sich nicht auf die Maturazeugnisse verlassen. Und Unternehmen nehmen bei Stellenausschreibungen zwar eine Vorauswahl aufgrund der Ausbildung der Bewerber:innen vor, folgen bei der Entscheidung aber der eigenen Bewertung und Einschätzung.
Eine eingehende, kritische Analyse dessen, was unsre Schulen leisten, ist wohl auch in Südtirol sinnvoll. Und wenn Handlungsbedarf erkannt wird, darf es keine Tabus geben. (RW)