Bozen/Brüssel – Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die zur Europäischen Gemeinschaft (EG) und zur Europäischen Union (EU) mutiert ist, hat viel bewirkt. 55 Jahre nach ihrer Gründung kann die Gesamtbilanz nur positiv sein. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in dem sich Menschen, Unternehmen, Waren und Kapital frei bewegen und entfalten dürfen, hat wesentlich zu einer nachhaltigen Befriedung des zuvor von ständigen Konflikten erschütterten Kontinents beigetragen. Mit dem, was an Positivem geleistet worden ist, darf aber nicht zugedeckt werden, was an negativen Umständen augenscheinlich geworden ist. Und zuweilen würde sich die Bevölkerung wünschen, EU-Kommission und EU-Parlament würden nicht nur regulieren und mahnend den Zeigefinger heben, sondern etwas gegen die offensichtlichen Schwächen des Systems unternehmen, statt diesbezüglich jahrelang zu kreißen, um dann eine Maus zu gebären. Es ist halt eine Tatsache, dass Brüssel über seine Töpfe Milliarden in den Sand setzt, statt die Mittel wirksam zu verwenden; die Liste der nutzlosen, ja geradezu irrsinnigen Projekte, die mit EU-Geldern finanziert worden sind, ist ellenlang und reicht von Straßen, die niemand nutzt und die irgendwo „in der Pampa“ enden, über Promenaden an Stränden, die heute verfallen, weil die geplanten angrenzenden Feriensiedlungen nie errichtet worden sind, bis zu ESF-Kursen, die den Referenten ein Honorar gebracht haben, aber sonst ohne Wirkung und ohne Anklang geblieben sind.
Was ist aus den großen Versprechungen geworden, mit denen Brüssel seine großen Vorhaben angekündigt hat? Erinnert sich jemand an den Cecchini-Report von 1988, mit dem die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion begleitet wurde? Eine Arbeitsgruppe unter dem Wirtschaftswissenschaftler Paolo Cecchini hat von 1986 bis 1988 im Auftrag der EG-Kommission die Kosten der Marktzersplitterung und die Vorteile des Binnenmarktes berechnet. Die Zeitungen haben dann monatelang berichtet: 200 Milliarden ECU (die damalige rechnerische Währungseinheit) könnten durch einen Abbau der Barrieren eingespart werden, mittelfristig sei ein zusätzliches BIP-Wachstum in Höhe von 4,5 Prozentpunkten möglich und eine Preissenkung von sechs Prozent. Außerdem ist im Bericht davon die Rede, dass „einige Millionen“ neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Das überaus optimistische Wachstumsszenario wurde 1995, als die letzten Entscheidungen in Sachen Währungsunion fielen, noch einmal bekräftigt.
Die Bilanz an der Wende zum neuen Jahrtausend war ernüchternd. Das Wirtschafts- und das Produktivitätswachstum lagen deutlich hinter den Erwartungen zurück. Während sich die zu Beginn der 1990er-Jahre kriselnde US-Wirtschaft („Can American business compete?“, fragte der „Economist“ damals) in der Folge deutlich erholte, blieb der Aufschwung in „Old Europe“ (Donald Rumpsfeld) vergleichsweise bescheiden, weil die entscheidende Dynamik und die Bereitschaft zu Veränderungen fehlten.
Den Regierungen der EU-Staaten war durchaus bewusst, dass die Dinge nicht so liefen, wie sie hätten laufen sollen. Deshalb wurde im März 2000 die sogenannte Lissabon-Strategie verabschiedet. Dieses Programm sah nicht mehr und nicht weniger vor, als dass die Staaten der Europäischen Union bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ werden sollten – mit entsprechenden guten Aussichten für Wachstum und Beschäftigung. Kernpunkte waren die Stärkung von Forschung, Bildung und Innovation, die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die Reform der Sozialsysteme, um stärkere Anreize für Beschäftigung zu schaffen, die Öffnung der Dienstleistungsmärkte, die Entlastung der Unternehmen von überflüssiger Bürokratie und die Förderung von Innovationen im Umweltschutz.
Heute zeigt sich: Europa ist kein dynamischer, sondern ein ausblutender, wenn auch immer noch starker Wirtschaftsraum, der zudem von einer Staatsschuldenkrise gebeutelt wird, die an seinen Festen rüttelt. Das Wirtschaftswachstum bleibt schwach, manche Staaten stecken gar in einer hartnäckigen Rezession, und im März waren fast 25 Millionen Menschen in der EU arbeitslos (die Rate ist mit 10,2 % so hoch wie seit 1997 nicht mehr). Die Investitionen in Forschung und Entwicklung, die drei Prozent des BIP betragen sollten, sind nach wie vor gering, die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte ist in manchen Staaten nie umgesetzt worden (Italien arbeitet daran), und von einem Bürokratieabbau, der die Unternehmen entlasten soll, kann vielfach keine Rede gehen.
Das alles zeigt: Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Und statt endlich zu tun, was vereinbart worden ist, wird um die Ausgabe von Eurobonds gefeilscht, die keine Lösung sind, sondern nur einen Zeitgewinn von ein paar Jahren bringen.
Die EU ist eine wertvolle Einrichtung. Um sie zu erhalten und zu entwickeln, braucht es Taten, nicht bloß Absichtserklärungen.