Bozen – Kinder weg vom Bildschirm, das Handy raus aus der Schule, soziale Medien erst ab 16. Solche Maßnahmen und Forderungen kennt Manuel Oberkalmsteiner zur Genüge. Aktuell liegt das Buch „Generation Angst: Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“ von Jonathan Haidt auf dem Schreibtisch des Sozialpädagogen, der im Forum Prävention auch für Medienwelten und Social Media zuständig ist. Die radikale Kritik des US-Amerikaners Haidt an Social Media und der steigenden Smartphone-Nutzung teilt Oberkalmsteiner nicht. Er sieht Eltern und Schule zwar zunehmend unter Druck – doch eine reine Verbots- und Regulierungspolitik allein reiche angesichts des rasanten technologischen Wandels nicht aus.
SWZ: Herr Oberkalmsteiner, sind Smartphones und soziale Medien pauschal als Quell aller Übel der modernen Welt zu verdammen?
Manuel Oberkalmsteiner: Die Forschung ist sich uneinig, ob ein exzessiver Konsum digitaler Medien negative Auswirkungen hat oder ob Vorbelastungen wie Stress, Angstzustände oder psychische Krankheiten zu einem exzessiven Konsum führen. Denn dann kann auf TikTok scrollen oder im Internet surfen als eine Art Medizin genutzt werden – weil ich mich dabei nicht mehr spüre. Kurzum – und das merken auch Jonathan Haidts Kritiker an: Die Forschungslage sieht keinen Zusammenhang zwischen Social-Media-Nutzung und psychischem Wohlbefinden. Davon abgesehen, gilt es noch einen ganz anderen Aspekt zu bedenken: Hinter TikTok, Instagram & Co. stehen riesige Konzerne, die natürlich ein großes Interesse daran haben, ihre Nutzer:innen stark zu binden und deshalb Mechanismen einbauen, damit ich die App länger und öfter nutze.
Da dürfen sich nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene ertappt fühlen.
Exakt. Soziale Medien bergen grundsätzlich ein großes Ablenkungspotenzial – das aber noch nicht süchtig macht. Süchtig können diejenigen werden, die, sagen wir so, mit der Welt draußen nicht zurechtkommen. Das Internet bietet einen anderen Zugang zur Welt.
Einen Fluchtweg?
Eine Flucht oder eine Medizin. Aber nicht nur im negativen Sinn. Wenn ich in einem Dorf lebe, eine bestimmte sexuelle Orientierung habe und mich vielleicht niemandem anvertrauen kann, ist der Gang ins Internet keine Flucht mehr, sondern ich kann dort das ausleben, was sonst nicht möglich ist. Es gibt also kein Schwarz-Weiß. Haidt hingegen malt eher schwarz.
Was ist dran an der Aussage, dass sich ein übermäßiger oder nicht altersgerechter Konsum digitaler Medien negativ auf Kinder und Jugendliche auswirkt?
Wir wissen und es steht außer Zweifel, dass Handys und vor allem Social Media ablenken. Die Unesco sagt: Jedes Mal, wenn ich während dem Schulunterricht vom Handy abgelenkt werde, braucht es bis zu 20 Minuten, bis ich mich wieder auf das Thema im Unterricht konzentrieren kann. Außerdem wird ein Zusammenhang zwischen übermäßigem digitalem Konsum und schlechten Schulleistungen vermutet: je höher Ersterer, desto schlechter Zweitere.
Hängt das nur davon ab, wie lange auf den Bildschirm geschaut wird oder auch davon, was geschaut wird?
Natürlich. Laut Unesco gilt: Je jünger Kinder beim Surfen sind, desto mehr sind sie mit Themen konfrontiert, die sie emotional nicht verarbeiten können. Wenn meinem achtjährigen Sohn auf TikTok Kriegsbilder, Gewaltvideos, Hasskommentare und Fake News begegnen, schafft er es vermutlich nicht, diese Inhalte einzuordnen. Vor allem für ein junges Kind kann das emotional sehr belastend und herausfordernd sein. Das ist natürlich ein schwerwiegender Punkt, der gegen die Handynutzung spricht.
Unterrichtsminister Giuseppe Valditara hat vorige Woche ein absolutes Smartphone-Verbot an Grund- und Mittelschulen angekündigt. Wie sinnvoll ist das?
Ich sehe das so: Mit den großen Konzernen hat es einen Wildwuchs an Technologien gegeben, der lange Zeit weder kontrolliert noch hinterfragt wurde. Erst seit ein paar Jahren beschäftigen wir uns alle mehr damit und fragen uns, was gut und was vielleicht nicht so gut an der Entwicklung ist. Digital Detox ist ein Thema, es gibt Beratungsangebote für Eltern – weil der Bedarf daran besteht.
Schießt es nicht übers Ziel hinaus, wenn Handys selbst zu Unterrichtszwecken nicht mehr verwendet werden dürfen?
Die Absicht dahinter kann ich schon verstehen. Vor allem in der Grund- und Mittelschule geht es entwicklungspsychologisch darum, mit anderen, der Außenwelt in Kontakt zu treten – stattdessen stehen alle am Pausenhof und stieren in ihr Handy. Insofern glaube ich, dass das jetzt einmal ein gutes Experiment sein kann, das den Schulen hilft, den Unterricht zu gestalten. Und die Kinder lernen vielleicht, auch einmal längere Zeit ohne Smartphone zu sein.
Realität ist aber auch, dass digitale Kompetenzen schon heute, aber in Zukunft noch viel mehr, wichtig sind, nicht zuletzt in der Arbeitswelt.
Absolut.
Wie und wo sollen Heranwachsende diese Kompetenzen erwerben, wenn nicht in der Schule?
Die Welt ist digital, die Arbeitswelt sowieso. Wenn ich KI nutzen kann, mich mit Programmieren, Algorithmen oder Google Advertising auskenne, habe ich einen Wettbewerbsvorteil. Deshalb reicht ein Verbot keineswegs aus. Das Bildungssystem muss sich anpassen, der Umgang mit Technologien verstärkt gelehrt werden. Das gilt für alle Schul-, aber auch Altersstufen, für Kinder genauso wie für Erwachsene und Seniorinnen und Senioren. Ich sehe es so wie beim Auto.
Inwiefern?
Als das Auto eingeführt wurde, gab es auch keine Straßenverkehrsordnung. Es gab Chaos und Unfälle – bis man begonnen hat, das Ganze langsam besser zu regulieren, und erkannte: Es braucht eine Ausbildung, einen Führerschein, damit die Menschen lernen, mit dem neuen motorisierten Gefährt umzugehen. Im Forum Prävention haben wir 2023 ein Pilotprojekt gestartet: einen Smartphone-Führerschein für Mittelschulen. Wir bilden Lehrpersonen aus, die gewisse Themen – wie funktioniert das Internet, was heißt es, wenn ich eine Whatsapp-Nachricht schreibe, was ist Datenschutz usw. – dann im Unterricht vermitteln. Wir müssen wissen, wie das funktioniert. Auch, um Fehler zu vermeiden. Denn wegzudenken sind die Geräte, Medien, Technologien nicht mehr. In meinen Augen sind wir dabei, den rasanten Technologiewandel, dem wir lange nicht hinterhergekommen sind, aufzuholen, auf dem Weg, einen Umgang damit zu finden.
Wer ist „wir“?
Neben den Präventionseinrichtungen und Schulen auch die Gesetzgebung. Die EU beginnt, die großen Konzerne – TikTok, Meta & Co. – stark zu regulieren, auch über die Datenschutzgrundverordnung. Das sind Schritte, die, wie beim Autoführerschein, letztendlich auf eine bessere Regulierung hinauslaufen werden. Aber regulieren allein nützt nichts: Es gilt, wie gesagt, zugleich zu schauen, wie wir alle mitnehmen können.
Eltern fragen sich oft, mit welchem Alter ihr Kind ein Handy kriegen soll, wie viel Zeit vor dem Tablet oder Fernseher angebracht ist, ob sie den Nachwuchs getrost alleine mit digitalen Medien lassen können. Mit der Initiative „Eltern-medienfit“, für die Sie verantwortlich sind, gibt das Forum Prävention konkrete Antworten und Empfehlungen – auch, weil Erwachsene selbst oft überfordert sind?
Ganz ehrlich: Ich selbst gebe ungern solche Empfehlungen, weil sie eher Druck aufbauen, als dass sie Eltern entspannen: „Mein Kind sitzt jetzt aber zwei Stunden länger als empfohlen vor dem Fernseher …“ Trotzdem brauchen Eltern eine Orientierung, denn sie sind auch in keiner leichten Position und finden sich oft in einem Handlungszwang wider: Wenn alle anderen Kinder ein Handy haben, kann ich dann meinem eines verwehren? Deshalb braucht es Tipps. Aber letztendlich geht es – auch bei „Eltern-medienfit“ – um etwas ganz anderes.
Und zwar?
Darum, dass Eltern sich Gedanken darüber machen, ob ihr Kind das hat und kriegt, was es auf dem Weg zum Erwachsenwerden braucht: Beziehungen, Liebe, Entspannung, Sport, Bewegung, Freundschaften. Natürlich ist es so – da hat Haidt nicht unrecht: Je mehr Zeit ich vor einem Gerät verbringe, desto weniger Zeit bleibt mir für andere Tätigkeiten. Und damit kommen uralte menschliche Bedürfnisse zu kurz, die mit digitalen Medien nicht oder nicht ausreichend erlernt werden können: Wie gehe ich mit anderen Menschen um, wie mit Stress, Überforderung, Konflikten? Wie spreche ich eine mögliche Partnerin, einen möglichen Partner an? Wie drücke ich Anerkennung, Wertschätzung, Zuneigung aus?
Ein Like oder Herzchen reicht dafür wohl nicht?
Nein. Das kann ein Ersatz sein. Aber wenn ich nur die digitale Welt zur Verfügung habe, bleiben Bedürfnisse wie das nach Bewegung und einem sozialen Leben auf der Strecke. Sind diese Bedürfnisse aber in der analogen Welt befriedigt, spielt die Mediennutzung – ob es nun eine Stunde ist oder zwei oder fünf Stunden sind – keine Rolle. Denn dann wird der Medienkonsum zwar ein Medienkonsum sein, der sich in den Alltag integriert, aber nicht zu einem Ersatz für etwas. Ein Problem ist es dann, wenn er ein Ersatz wird.
Gibt es nur „schlechte“ Bildschirmzeit für Kinder oder kann sie auch gewinnbringend sein?
All die Technologie hat etwas absolut Positives, keineswegs nur negative Seiten. Die Frage ist: Wie nutze ich sie? Schaut mein Kind nur Unterhaltungsprogramme oder biete ich ihm auch Bildungsprogramme an? Wenn Inhalte kindgerecht verpackt sind, kann bestenfalls Wissen generiert werden. Auch können vor dem Bildschirm gemeinsame Erlebnisse entstehen: beim Videoanruf mit den Großeltern oder wenn gemeinsam ferngesehen wird. Mein Highlight früher war, am Samstagabend „Wetten, dass …?“ zu schauen – das war für uns ein Familienereignis.
Das Fazit lautet: Kinder beim Medienkonsum nicht alleine lassen, als Elternteil dabei sein, sich interessieren und vom Kind zeigen lassen, was es macht – und altersgerechte Inhalte aussuchen, die nicht nur unterhaltend sind, sondern im besten Fall Bildung fördern können.
Interview: Lisa Maria Gasser
Die Autorin ist freie Journalistin.
Dieser Artikel ist in der gedruckten SWZ mit folgendem Titel erschienen: „Es gibt kein Schwarz-Weiß“.