Renaissance der Erfahrung

SWZ-Mitarbeiter Hartmut Volk sprach darüber mit Dr. Ferdinand Rohrhirsch, außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der sich seit langem auch mit Führungsfragen beschäftigt.Auch durch Schaden kann man bekanntlich klug werden. Mit dem Durchbruch des Internets zum Massenmedium verordnete der Zeitgeist diese Denkweise: Wirtschaft ist schnell geworden. Zu schnell, um der Erfahrung noch einen Stellenwert im Alltagsgeschehen zu belassen. Flugs wurde damit begonnen, ältere, erfahrene Kräfte, am heftigsten traf es die Führungskräfte, durch jüngere zu ersetzen. Heute wissen wir, das war ein ebenso teurer wie kontraproduktiver und destabilisierender Irrtum. Warum?Wer auf Erfahrung verzichten zu können glaubt, der muss die Erfahrung gemacht haben, dass es auch ohne Erfahrung geht. Für eine kurze Zeit konnte dieser Eindruck tatsächlich entstehen, und zwar damals, als Firmen, gerade gegründet, in kürzester Zeit einen höheren Börsenwert ausweisen konnten als eingesessene, renommierte Unternehmen, die Jahr für Jahr ihren Aktionären eine stabile, aber keine spektakuläre Dividende erwirtschafteten. Wofür Unternehmen Jahrzehnte brauchten, gelang jetzt über Nacht. In einem Klima, in dem die Ankündigung für die Tat, der Plan für das Ergebnis gehalten wurde, war es dann auch nicht verwunderlich, dass sich für kurze Zeit die Ansicht breit machen konnte, dass Erfahrung, wenn nicht generell schon überflüssig, auf jeden Fall mittels Anhäufung theoretischen Wissens substituierbar wäre. Doch Erfahrung ist nicht ersetzbar, nicht in technischen Bezügen und erst recht nicht in Personenrelationen. Eine Studie des Gallup-Institutes zeigt, dass es für Spitzenleistungen in einem Beruf ca. zehn bis 18 Jahre braucht, und das gilt für jeden Beruf. Schnelligkeit nützt hier überhaupt nichts. Erfahrung hat etwas mit Zeit zu tun. Und für Spitzenleistungen braucht es eben Zeit und Talent. Ganz besonders da, wo es um Menschen geht. Da helfen Simulationen und Techniken wenig bis überhaupt nicht. Führungswissen ist eine ganz besondere Art des Wissens. Ein Wissen, das von der Person, die dieses Wissen verkörpert, nicht mehr getrennt werden kann, auch darum, weil es mit Erfahrung zu tun hat.Nun waren die jüngeren Kräfte, vor allem die karriereambitionierten, die es agiler, cleverer, vorwärtsorientierter, kurz besser machen sollten als ihre ausgemusterten Vorgänger, zwar ärmer an Erfahrung, dafür aber in der Regel erheblich reicher an Wissen, theoretischem wohlgemerkt. Warum ist Wissen eine zwar unbedingt notwendige, aber wie sich gezeigt hat auch unter heutigen Arbeitsbedingungen keine hinreichende Arbeitsgrundlage?Innerhalb des Führungskontextes sehe ich in Ihrer Frage ein Grundproblem, das die alltägliche Führungsarbeit maßgeblich mitbestimmt, aber nicht immer offen thematisiert wird. Ohne Zweifel gilt doch „karriereambitioniert“ und „vorwärtsorientiert“ als positive Kennzeichnung einer Führungskraft. Doch um wessen Karriere geht es bzw. sollte es gehen? Mache ich Karriere für mich, auch auf Kosten des Unternehmens und seiner Mitarbeiter, oder sehe ich meine primäre Orientierung an den Erfordernissen der „Karriere“ des Unternehmens?Eine Zunahme des theoretischen Wissens ist zunächst einmal völlig belanglos. Wer mehr Wissen hat, der kann nur mehr vergessen. Das Mehr an Wissen wird da bedeutsam, wo einer in der Lage ist, mithilfe seines Wissens problemgerecht zu agieren, bzw. es problemorientiert zu generieren. Wissen ist ein Vermögen, eine Fähigkeit des Menschen. Das eigentliche Können zeigt sich in der Anwendung. Oft wird aber unter Wissen eine Schlüssel-Schloss-Metapher suggeriert. Ich habe ein Problem und dafür gibt es ein Wissen. Ich muss mein Problem nur datenbanktauglich formulieren und die Wissensdatenbank spuckt mir die Lösung aus. Beispiel: Ich habe einen Mitarbeiter mit einem Pünktlichkeitsproblem, wie lautet die Lösung? Und Lösungen in diesem Sinne gibt es zuhauf. Die Führungsratgeber sind voll mit wissenschaftlich gewonnenem, theoretischem Wissen. Doch das veraltet so schnell, wie die jeweilige Wissenschaft Fortschritte macht bzw. eine Trendwissenschaft von einer anderen abgelöst wird. Wer sich da auf dem Laufenden halten will, weil er das für das eigentliche Wissen hält, die neuesten Ansätze kennt, die relevanten Branchenzeitschriften durcharbeitet, auf Seminare geht, der weiß unter Umständen sehr viel - theoretisch - und scheitert nicht selten grandios - praktisch. Hier kommt nämlich das ins Spiel, was Erfahrung ausmacht und in der Redensart „Erfahrung ist nicht alles, aber ohne Erfahrung ist alles nichts“ zum Ausdruck kommt. Theoretisches Wissen, verstanden als gesicherte Erkenntnis, ist verallgemeinerbar, darum lässt es sich formalisieren, übertragen und kann von einem anderen aufgenommen werden. Bei der Erfahrung geht das nicht, sie ist nicht übertragbar und deshalb versagen alle Techniken, Rezepte und Ratgeber zum Thema Führung, weil gerade das, was eine Führungspersönlichkeit ausmacht, wesentlich mit Erfahrung zu tun hat. Wissen können Sie aufnehmen und Sie bleiben doch derselbe. Wer Erfahrungen gemacht und seine Lehren daraus gezogen hat, der hat die Möglichkeit, sich zu verändern und zu prägen. Der kann zu einem „Gebildeten“ werden.Manche meinen, unter dem Mehr an Lebensjahren und Erfahrung leide die Lern- und damit die Veränderungsfähigkeit und -willigkeit von Menschen. Und gerade darauf käme es doch heute an. Was ist daran Wahrheit, was Legende?Egal in welchem Alter, keiner verändert ohne Grund seine jeweilige Daseinsweise. Wer im ökonomischen Kontext die Änderung bestimmter Verhaltensweisen bei anderen für notwendig hält, wird die größten Realisierungschancen dann haben, wenn es ihm gelingt, diese von der Notwendigkeit der Veränderung zu überzeugen (schon dass bei Mitarbeitern für eine Änderung geworben wird, ist leider nicht selbstverständlich, sondern diese erfahren sich allzu oft als solche, über die entschieden wurde). Wenn nachvollziehbar vermittelt werden kann, dass die bisherigen Wege nicht mehr gangbar sind und die neuen, Erfolg verheißenden Wege auch in der Wahrnehmung der Betroffenen tatsächlich als solche wahrgenommen werden, dann können erfahrene Mitarbeiter nicht nur Veränderungen mitmachen, sondern - bedingt durch ihre Erfahrung - auch effizienter mitgestalten. Erfahrene Mitarbeiter werden aber nicht jede Neuorganisation, die ihnen von oben „kommuniziert“ wird und nicht selten Ausdruck eines Aktivitätsnachweises des gehobenen Managements ist, willfährig mittragen, sondern nach dem Verhältnis von Kosten und Ertrag fragen. Die Älteren, so heißt es zuweilen, verweigerten sich mit Verweis auf ihre fachlichen und menschlichen Erfahrungen insbesondere auch neuen Management- und Organisationsmethoden. Ist Letzteres grundsätzlich ein Manko oder ist die skeptische Distanz zu den doch recht flüchtigen Glaubenslehren des Tages eher ein Segen für den Betrieb und seine Menschen?Wenn es etwas gibt, was Mitarbeiter bis in den Grund ihres Seins demotiviert, dann sind es Vorgesetzte, die sich jedes Jahr mit einer neuen Führungstechnik profilieren wollen und „ihre“ Leute entsprechend ausrichten, um zu zeigen, dass sie auf der Höhe der Zeit sind. Der Vorgesetzte als Laborleiter und die Mitarbeiter als lebende Versuchsobjekte! Führung und Moden schließen sich aus. Stetigkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit sind ganz entscheidende Kriterien einer Führungspersönlichkeit. Meine gesammelte Verachtung gilt den Karriere- bzw. Machtratgebern, die mit einem gezielt erzeugten Klima der Unberechenbarkeit eingefahrene Gewohnheiten aufbrechen wollen. Aber Unberechenbarkeit erzeugt Angst und wer Angst hat, von dem kann keine Motivation und noch weniger Leistung erwartet werden. Organisationsmethoden folgen nach Alfred Kieser Moden und Mythen und im Führungsbereich ist es nicht anders. Je weniger Wissen um prinzipielle und geschichtliche Strukturen vorhanden ist, umso ausgelieferter und abhängiger ist man von Neuem. Doch das wird nicht einmal als Problem gesehen. Zu Hilfe kommt da ein Mythos, der im Marketing seinen Ursprung hat und der lautet: das Neue ist stets das Bessere. Das kann sein, aber es ist nicht notwendig so. Das der Menschheit zur Verfügung stehende und auf wirtschaftliche Nutzung drängende Wissen explodiert und treibt einen Veränderungsmotor von enormer Kraftentfaltung. Und trotzdem geht es offensichtlich nicht ohne so etwas Althergebrachtes wie Erfahrung. Warum ist Erfahrung ein schlicht unverzichtbares Element bei der Steuerung eines Unternehmens?Erfahrung ist nützlich, weil sie ein Ergebnis von bereits geschehener Auseinandersetzung mit Wirklichkeit ist. Insofern kann sie beim erneuten Kontakt mit der Wirklichkeit hilfreich dazu beitragen, das Repertoire möglicher Verhaltensweisen wirksam auf die bisher erfolgreichen zu orientieren. Mithilfe der bisher gemachten Erfahrungen kann (muss nicht) ein Unternehmen klug werden und dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass auch die zukünftigen Außenkontakte erfolgreich ablaufen. Nun gibt es kaum etwas, was nur gut oder nur schlecht wäre. Die Erfahrung ist davon nicht ausgenommen, auch sie ist janusköpfig, hat zwei Gesichter. Wann wird Erfahrung zur Gefahr?„Ich habe die und die Erfahrung gemacht“, sagen wir. Erfahrung ist immer je meine. Auch der Erfahrene hat nicht die Gewähr, dass er mit seiner Klugheit ein Problem lösen kann. Erfahrung wird dann zur Gefahr, wenn das vergessen wird und die eigenen Erfahrungen verabsolutiert und zum allein seligmachenden Maßstab genommen werden. Dann gilt nur noch das, was man selbst erlebt hat und kann nicht mehr offen für die Erfahrungen anderer sein. Das hat dann nichts mehr mit Bildung zu tun, sondern eher mit Einbildung.Wie sorge ich nun im betrieblichen Alltagsgeschehen dafür, dass die unverzichtbar unterstützende Kraft der Erfahrung genutzt, ihrer blockierenden, rückwärtsgewandten Macht aber Paroli geboten wird? Neuen Mitarbeitern einen erfahrenen Mitarbeiter an die Seite geben. Ausreichend lange Einarbeitungszeiten geben. Einen Rahmen schaffen, in dem der Meinungsaustausch erleichtert wird. Mehrtägige Arbeitsgemeinschaften für kontinuierliche Verbesserungsprozesse bilden. Erfahrung kann selbstverständlich die notwendige Anpassung an die Zukunft blockieren, wenn sie als Rezeptwissen eingesetzt wird. Aber einer, der durch seine Erfahrung klug geworden ist, wird als Letzter auf die Idee kommen, immer wieder mit den alten Schlüsseln die neuen, zukünftigen Schlösser öffnen zu wollen.Zur Person: Ferdinand Rohrhirsch, Dr. theol. habil., ist außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Philosophie Martin Heideggers, praktische Philosophie, Ethik, philosophisch-ethische Grundfragen der Führung. Vortrags-, Seminar- und Beratungstätigkeit vorrangig zu den Themen Führungs- und Unternehmensethik. E-Mail: ferdinand.rohrhirsch@ku-eichstaett.de; Internet: www.ferdinand-rohrhirsch.de

Renaissance der Erfahrung

Gespräch mit dem Philosophieprofessor Ferdinand Rohrhirsch

Südtiroler Wirtschaftszeitung

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