Bozen – Ende Oktober 2023: Südtirol wählt einen neuen Landtag. Die SVP kommt auf nur mehr 13 Sitze – eine Neuheit. Ebenfalls neu ist der Weg, den die Südtiroler Volkspartei einschlägt. Anfang Dezember beginnt sie Koalitionsverhandlungen mit den rechtsnationalistischen Fratelli d’Italia, der Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Mit am Verhandlungstisch sitzen die Freiheitlichen, die Lega und die Liste „La Civica“ von Angelo Gennaccaro.
Zwischen Protest und Parteiaustritt

Gleich mehrere Organisationen rufen zum Protest auf, allen voran die Bewegung „No Excuses“, zudem unter anderem „Fridays for Future“, „Climate Action South Tyrol“ und „Frauenmarsch – Donne in Marcia“. Es kommt zu mehreren Demonstrationen. Am stärksten besucht ist jene am 23. Dezember, als sich rund 1.000 Menschen versammeln. „Wir sind davon überzeugt, dass mit dieser Koalition ein schleichender Prozess beginnen wird, in dessen Verlauf illiberale Ansichten wieder hoffähig werden. Je früher man gegensteuert, desto besser ist das fürs Land“, sagt David Röck von „No Excuses“ damals im Interview mit der Neuen Südtiroler Tageszeitung. Selbst Mitglieder der SVP schließen sich dem Protest an. Albert Pürgstaller, ehemaliger Arbeitnehmerchef der Partei, tritt gar aus dieser aus. „Fratelli d’Italia vertritt Werte, die nicht mit Menschenrechten vereinbar sind. Das lässt sich nicht einfach durch tagespolitische Erfolge wegradieren. Unter Silvius Magnago wäre so eine Entscheidung der SVP nicht denkbar gewesen. Ich bin von der Volkspartei zutiefst enttäuscht“, erklärt Albert Pürgstaller im Dezember 2023 gegenüber der Rai.
Heiligt der Zweck die Mittel?
Allem Widerstand zum Trotz steht Anfang Jänner 2024, gut zwei Monate nach der Wahl, die neue Regierung. Die (temporäre) Ehe zwischen der SVP mit den Rechten ist besiegelt. Eine Zweckgemeinschaft, wie Landeshauptmann Arno Kompatscher nicht müde wird zu betonen, die nur deshalb eingegangen werde, um die Autonomie zu reformieren. Konkrete Meilensteine nennt Kompatscher ebenfalls. Bis Juni solle es einen Gesetzesentwurf geben. Doch die Frist verstreicht. Daraufhin verspricht Meloni, den Text im November in den Ministerrat zu bringen. „Wenn die Regierung ihr Versprechen nicht hält, also im November keinen Text vorlegt, dann ist die Grundlage unserer Zusammenarbeit mit den Fratelli d’Italia auf Landesebene, die auf der Wiederherstellung der Autonomie fußt, nicht mehr gegeben“, sagt Kompatscher im Oktober. Zwar verstreicht auch dieses Ultimatum, doch hat die Arbeitsgruppe zur Autonomiereform mittlerweile ihre Arbeiten abgeschlossen. Mitte Dezember übermittelt sie ihre Ergebnisse dem Ministerratspräsidium zur weiteren Behandlung.
„Pokerspiel mit hohem Einsatz“

Was die SVP, angeführt von Kompatscher, in Sachen Autonomiereform voranbringt (oder eben nicht), beobachten jene, die vor einem Jahr gegen die Koalition mit den Fratelli protestiert haben, besonders genau. So auch David Röck. „Es erweckt durchaus den Eindruck, als verfolge die Regierung in Rom eine Hinhaltetaktik“, kommentiert Röck. Er befürchtet, dass den Fratelli aus Bozen viel gegeben werden könnte, im Gegenzug aber nichts zurückkomme. Die Verhandlungen vergleicht er daher mit einem „Pokerspiel mit hohem Einsatz, aber ungewissem Ausgang“. Erneute Proteste seien derzeit dennoch nicht geplant. Vor einem Jahr hatte sich seine Gruppierung bewusst dafür entschieden, keine weiteren zu organisieren. „Wir dachten, sie würden im Sande verlaufen, sobald die Regierung erst mal steht, und haben uns deshalb für einen Strategiewechsel entschieden.“ Rückblickend vielleicht nicht die richtige Entscheidung, wie Röck sagt: „Wir haben das womöglich falsch eingeschätzt, denn die Menschen wären durchaus bereit gewesen, ihre Enttäuschung noch mal auf die Straße zu bringen.“
Gleichwohl bleiben von den Protesten in Röcks Augen zwei Dinge übrig. Erstens, dass verschiedene Südtiroler Gruppierungen, die gesellschaftspolitisch aktiv sind, zusammengebracht und dadurch kleine Netzwerke verbunden wurden. Zweitens die Bildhaftwerdung der Tatsache, dass „die Südtiroler Gesellschaft nicht alles mit sich machen lässt“. Röck erklärt: „Wenn man sich die Geschichte unseres Landes anschaut, ist es keine Kleinigkeit, wenn 1.000 Menschen demonstrieren. Das gab es davor nicht oft.“
„Schärfere Gangart gegen demokratische Grundrechte“
Sie alle wollten ihrer Furcht Ausdruck verleihen, rechten Kräften Tür und Tor zu öffnen, den Tabubruch nicht ohne Aufschrei hinnehmen. Viele von ihnen befürchteten wie Röck den Beginn eines schleichenden Prozesses. Hat sich diese Befürchtung bewahrheitet? „Unterschiede spürt man sicherlich bei der Organisation von Kundgebungen. Das liegt am neuen Quästor, Paolo Sartori. Es war einer unserer Hauptkritikpunkte, dass versucht werden wird, einen autoritären Sicherheitsapparat zu installieren. Wir beobachten auf jeden Fall eine schärfere Gangart gegen demokratische Grundrechte“, sagt Röck.

Majda Brecelj, Aktivistin bei verschiedenen Bewegungen wie „Fridays for Future“, bestätigt das. „Ich organisiere seit sechs Jahren Demonstrationen und habe in fünf Jahren nie solche Zustände erlebt wie zuletzt“, sagt Brecelj. Im Frühjahr 2024 etwa wurde sie in die Quästur gerufen, nachdem sie eine Protestaktion angemeldet hatte. Der Anlass: ein Besuch von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Bozen. „Eine solche Vorladung ist unüblich. Noch befremdlicher war, dass mich drei Beamte im Detail ausfragten, was genau bei der Aktion geplant sei. Der Höhepunkt war aber, dass ich ihnen sagen sollte, was wir auf unsere Schilder schreiben werden. Das Gefühl, das mir an diesem Tag vermittelt wurde, war: ‚Wir entscheiden‘.“
„Können Bewegung jederzeit reaktivieren“
Es komme zuletzt immer wieder zu Handlungen, die sich nach Einschüchterung anfühlen, berichtet Brecelj. Die Aktivistin sieht den Versuch, die öffentliche Debatte stärker zu kontrollieren. Dass so etwas passieren könnte, davor hatte Albert Pürgstaller von Beginn an gewarnt. Der ehemalige SVP-Arbeitnehmerchef und einstige Bürgermeister von Brixen trat deshalb aus der Partei aus. „Aus Überzeugung“, wie er sagt. „Ich war seit jeher und bin weiterhin gegen jede Art der Extreme, sei es links oder rechts“, so Pürgstaller. Die Vertreter von Fratelli d’Italia würden auf Landesebene „tagtäglich Beweise ihrer Geisteshaltung liefern“.
Er sei gespannt, welches Ende die Autonomieverhandlungen nehmen werden. „Der Landeshauptmann und die Landesregierung werden sich daran messen lassen müssen.“ Die SVP werde die Liaison mit den Rechten auf jeden Fall zu spüren bekommen, prognostiziert Pürgstaller, sowohl bei den Mitgliedschaften als auch beim Wahlverhalten. Auf Gemeindeebene erwartet er zwar keine großen Einbußen – „Gemeindewahlen sind bekanntlich Personenwahlen“ –, sehr wohl aber bei der nächsten Landtagswahl.
David Röck sieht das ähnlich: „Wenn Kompatscher und die SVP scheitern sollten, wird das eine Zäsur für Südtirol darstellen. Es bleibt abzuwarten, ob die Regierung bis ans Ende der Legislatur Bestand haben wird.“ Die Gruppierung ist bereit, gegebenenfalls wieder zum Protest zu rufen. „‚No Excuses‘ ist nicht vollständig ad acta gelegt. Wir können jederzeit die Bewegung reaktivieren.“
Dieser Artikel ist in der gedruckten SWZ mit folgendem Titel erschienen: „Verstummt?“.
Interview
„Wunsch, offener zu denken“
SWZ: Welche Rolle kommt Protesten in einer demokratischen Gesellschaft zu?

Elisabeth Alber*: Sie sind ein Kernstück, ebenso wie andere Beteiligungsformen zwischen den Wahlen. In der Partizipationsforschung unterscheidet man zwischen drei Arten der politischen Beteiligung: dem zivilen Protest, der Mitarbeit in parteibezogenen Aktivitäten und dem Engagement in Bürgerbeteiligungsmodellen, wobei aus einer Protestaktion eine organisierte Kleingruppe und daraus zum Beispiel ein Bürgerrat entstehen kann. So schließt sich der Kreis zur herkömmlichen Politik, wenn man so will. Ein Beispiel dafür wäre der Stadtklimarat in Trient, der aus einer Aktion von „Extinction Rebellion“ entstanden ist.
Die Südtiroler Bevölkerung gilt gemeinhin als eher träge, was den politischen Protest anbelangt. Würden Sie dem zustimmen?
Jein. Im weiteren Sinne gibt es in Südtirol zahlreiche Vereine und eine weitverbreitete Freiwilligenarbeit. Diesen zivilgesellschaftlichen Initiativen kommt ebenfalls ein politischer Bildungsauftrag zu, der stärker genutzt werden könnte. Im engeren Sinne würde ich Ihnen zustimmen. Südtirol fehlt es an einer ausgeprägten Debattenkultur. Das liegt sicher auch an Südtirols Geschichte mit einer jahrzehntelang unangefochtenen SVP. Die Stabilität der Partei auf Landes- und Staatsebene hat erst dazu geführt, eine starke Autonomie zu erhalten. Das zeigt sich im Vergleich zu anderen autonomen Regionen, etwa in Moldau, wo stabile Verhältnisse fehlen. Zugleich hat es historisch durchaus Proteste gegeben, allerdings immer mit demselben Ziel, nämlich jenem der Autonomie.
Vor einem Jahr wurde in Südtirol erstmals im Zuge von Koalitionsverhandlungen mehrfach protestiert. Was ist in Ihren Augen von diesem Protest übrig geblieben?
Es war ein Novum, das gezeigt hat: Es gibt kritische Köpfe, die bereit sind, sich zu organisieren. Es ist etwas hängen geblieben von dieser Mentalität. Man sieht, dass ein großer Teil der Bevölkerung den Wunsch teilt, offener zu denken. Das drückt sich in verschiedenen Phänomenen aus, etwa dem Zuspruch bei den Frauenmärschen und anderen Manifestationen für eine pluralistische Gesellschaft. Die Menschen wollen jene Werte, die die Fratelli auf nationaler Ebene vertreten, nicht mittragen. Sie gehen für eine offene und sprachgruppenübergreifende Sachpolitik auf die Straße.
* Elisabeth Alber ist Forschungsgruppenleiterin am Eurac Research Institut für vergleichende Föderalismusforschung.