Bozen – Egon Sanin ist keiner, der auffällt. Weder ist er sonderlich groß gewachsen noch hat er einen speziellen Kleidungsstil oder irgendeine andere Besonderheit. Am ehesten könnte der Schnauzer als sein Markenzeichen durchgehen. Egon Sanin will auch gar nicht auffallen. Unlängst stand er trotzdem ausnahmsweise im Rampenlicht. Auf dem Bozner Waltherplatz wurde er als „Cavaliere della Repubblica“ gewürdigt. Die Auszeichnung geht alljährlich an ausgewählte Persönlichkeiten, die sich in besonderem Maße um die Republik verdient gemacht haben.
Ein bisschen Bozen, ein bisschen Triest
Dass der 66-jährige Pfattner lieber diskret im Hintergrund bleibt, hat mit seinem Charakter zu tun, aber auch mit seinem Job. Er ist der Chef einer wichtigen Einrichtung – oder genau genommen von zwei. Egon Sanin leitet derzeit bei der Einnahmenagentur, der italienischen Steuerbehörde, sowohl die Regionaldirektion Friaul-Julisch Venetien als auch die Landesdirektion Bozen. In Triest hat er rund 600 Mitarbeitende, in Bozen um die 180.
Sanin trägt den blauen Anzug, die dazu passende blaue Krawatte und das weiße Hemd wie einer, der sich nicht eigens für den Anlass zurechtgemacht hat, sondern der täglich so zur Arbeit geht. Der Krawattenknopf sitzt locker und nicht ganz perfekt, eine Hemdkragenspitze biegt sich frech hinter dem Jackett hervor. Etwas blass ist der frischgebackene Cavaliere, die Augen schauen müde aus. Da steht einer, der viel arbeitet und nicht um 17 Uhr den Computer ausschaltet, um Erfüllung beim Sport zu suchen, schießt einem durch den Kopf.
„Ich habe mir angewöhnt, nicht der Erste im Büro zu sein.“
Und tatsächlich: Er arbeite viel und auch gern, bestätigt Egon Sanin. Hingegen schlafe er wenig. In der Regel sei er um 5.30 Uhr auf den Beinen und beginne den Tag mit dem Lesen von Fachzeitschriften und Studieren von Unterlagen. Wenn ein Thema zu vertiefen sei, mache er das meistens am Wochenende oder am Abend. „Im Büro komme ich kaum dazu“, sagt er. Ins Büro gehe er normalerweise allerdings erst um 8 Uhr. „Ich habe mir angewöhnt, nicht der Erste im Büro zu sein“, schmunzelt er.
Freilich stellt sich die Frage, in welchem Büro. Seit bald anderthalb Jahren verbringt Sanin einen Teil der Arbeitswoche in Triest, einen Teil in Bozen. Auch an den Wochenenden ist er mal hier, mal dort. Im Juli 2023 hat ihn die Einnahmenagentur nämlich mit der Leitung der Regionaldirektion Friaul-Julisch Venetien betraut – ein Karrieresprung gegenüber der kleineren Landesdirektion Bozen, die Egon Sanin im Juli 2021 übernommen hatte. Die Landesdirektion in Bozen führt er „ad interim“ trotzdem weiter, bis ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gefunden ist. So verschwimmen bei Sanin die zwei Jobs, egal ob er gerade in Triest oder in Bozen sitzt. Ob ihn die größere Regionaldirektion in Triest oder die chronisch unterbesetzte Landesdirektion in Bozen stärker beansprucht, kann er selbst nicht so genau beantworten.
Es ist gut möglich, dass die Doppelfunktion bis zu seiner Pensionierung bleiben wird. Im Sommer 2025 geht Egon Sanin nämlich in Rente. Er wird dann 67 – und muss. Zugleich freut er sich darauf, bei aller Liebe zu seiner Arbeit.
Von der Klarinette zu den Steuern
Als er am Waltherplatz ausgezeichnet wurde, erfüllte ihn das klarerweise mit Stolz. Jemand hatte ihn für den Titel des Cavaliere vorgeschlagen. Wer genau, das weiß Egon Sanin nicht, wahrscheinlich sein Arbeitgeber. Aber solcherlei Anerkennung tut immer gut. Hinter Egon Sanin liegen immerhin 40 Jahre als gewissenhafter Diener der Einnahmenagentur, sprich des Staates.
Wäre es nach dem Vater gegangen, einem Pfattner Bauern und passionierten Mitglied der örtlichen Musikkapelle, dann hätte es ruhig anders kommen dürfen.
Wäre es nach dem Vater gegangen, einem Pfattner Bauern und passionierten Mitglied der örtlichen Musikkapelle, dann hätte es ruhig anders kommen dürfen. „Ihm wäre nicht unlieber gewesen, wenn ich eine Musikerlaufbahn eingeschlagen hätte“, lächelt Egon Sanin, der damals Klarinette spielte. Wohl jeder Vater wäre vor 40 Jahren froh gewesen, wenn der Sohnemann einen sicheren Job im öffentlichen Dienst angenommen hätte. Im musikbegeisterten Hause Sanin tickten die Uhren etwas anders.
Einige Tage nach der Ehrung am Waltherplatz sitzt Egon Sanin an einem Sitzungstisch in Bozen. An der rechten Hand glänzt der goldene Ehering, am linken Handgelenk eine silberne Uhr. Sein Leben mit den Steuern begann Sanin zufällig. Der studierte Betriebswirt erledigte im Musikverein Contrapunkt, wo er engagiert war, die Steuerangelegenheiten: „Jemand musste sich ja darum kümmern.“ Während des Militärdienstes habe er „an allen möglichen Wettbewerben teilgenommen, um frei zu kriegen“. Und so kam es, dass Sanin 1985 in Bozen bei der Steuerbehörde anfing, zunächst als Vizedirektor der Abteilung „Imposte dirette“.
Parallel wirkten Kontakte aus der Studienzeit in Innsbruck nach. In den 1980er- und 1990er-Jahren erarbeitete Sanin gemeinsam mit SWZ-Steuerexperte Walter Großmann das erste deutsche Glossar zur italienischen Steuerterminologie sowie gemeinsam mit Walter Großmann, Walter Steinmair und den Professoren Christiana Djanini und Hans Lexa die erste deutsche Übersetzung des „testo unico“. Dem Sohn einer Unterlandler Mischfamilie – Vater deutsch, Mutter italienisch – erschien das wichtig für die Südtiroler Sprachminderheit.
Ein Vagabundenleben für die Einnahmenagentur
Egon Sanin lehnt sich im Sessel zurück, während er erzählt. Er schaut entspannt aus. Er ist es aber nicht, sagt er: „Ich bin immer gestresst.“ Die Arbeit und vor allem seine Ansprüche an sich selbst zehren, obwohl er sich das nicht anmerken lassen will. Unzählige Male hat ihn die Einnahmenagentur in neue Positionen berufen. Immer war Sanin zur Stelle. Zunächst arbeitete er in Bozen, wurde dann vom Arbeitgeber zwischen 1997 und 2001 für ein vierjähriges Intermezzo als Generalsekretär der Gewerkschaft SGB/Cisl freigestellt, leitete danach bis 2010 unter anderem die Personalabteilung der Landesdirektion und verschiedene Südtiroler Territorialbüros. 2010 dann der Abschied aus Südtirol und der Beginn eines Vagabundenlebens: Sanin wurde nacheinander Landesdirektor in Venedig (2010–2014), in Vicenza (2015–2018) und in Verona (2019–2021), bevor er mitten in der Coronapandemie als Landesdirektor nach Südtirol zurückkehrte – und Trient gleich mitübernahm. Und nun also Triest.
Dass sogar ein Deutschsprachiger wie er in Führungspositionen aufrücken durfte, betont Sanin eigens.
Sein Arbeitgeber hat ihm ganz schön viel zugemutet. Nein, wehrt er entschieden ab, im Gegenteil: Die Einnahmenagentur hat ihm viel gegeben. Dass eine Führungskraft regelmäßig versetzt werde, sei notwendig, um jegliche Verfilzungen zu vermeiden. Sanin lobt die Steuerbehörde, die er kennt wie seine Westentasche, in den höchsten Tönen: Sie sei technologisch auf dem neuesten Stand, habe Förderprogramme für die Mitarbeitenden und biete die Möglichkeit, in Italien herumzukommen und neue Menschen und Situationen kennenzulernen, ohne den Arbeitgeber zu wechseln. Dass sogar ein Deutschsprachiger wie er in Führungspositionen aufrücken durfte, betont Sanin eigens.
Den Leuten auf die Nerven gehen
Egon Sanin spricht nie von „Belastung“, sondern immer von „interessanten Erfahrungen“. Er sieht das Glas lieber halb voll als halb leer. Er hat auch gelernt, sich mit der prekären Personalsituation in Bozen abzufinden. Auf Südtirols leer gefegtem Arbeitsmarkt tut sich die Einnahmenagentur besonders schwer, Personal zu finden. Daran liegt es wohl auch, dass in Steuerberaterkreisen, wo 2021 bei Sanins Amtsantritt hoffnungsfroh von einem „guten Mann“ gesprochen wurde, zum Teil Ernüchterung eingekehrt ist. Manch einer meint, Sanin sei in Bozen gescheitert. Er selbst sieht das naturgemäß anders: „Wir haben viel gemacht.“ Wie zum Beweis kramt Sanin einen Brief heraus, den er 2023 erhalten hat, als er den Auftrag in Triest annahm: Die Berufskammer der Wirtschaftsprüfer:innen und Steuerberater:innen drückt ihm dort ihre Wertschätzung aus und die Hoffnung, die Bozner Funktion „ad interim“ möge lange andauern.
„Es hat noch niemanden gegeben, der im Montiggler Wald die Spatzen gezählt hat.“
So etwas schmeichelt Egon Sanin. Letztendlich ist er aber keiner, der es sich zum Lebensinhalt macht, allen zu gefallen. Dazu hat er auch den falschen Job. „Ich werde dafür bezahlt, den Leuten auf die Nerven zu gehen“, sagt er halb ernst, halb im Spaß. Auf die Nerven gehe er nur jenen, die ihre Steuern nicht bezahlen. Bei solchen Aussagen blitzt ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn durch. Dieser hat Sanin in der Vergangenheit auch zur Gewerkschaft geführt und zeitweise als SVP-Arbeitnehmer in die Lokalpolitik.
Ob er nicht Angst vor dem Rentnerdasein habe, fragen wir ihn noch. Und was er dann machen werde: wieder die Klarinette herauskramen? Mehr Zeit für seine Frau und den mittlerweile 21-jährigen Sohn haben? Egon Sanin richtet sich im Sessel auf, neigt den Kopf nach vorne und lugt über seiner Lesebrille hervor. „Es hat noch niemanden gegeben, der im Montiggler Wald die Spatzen gezählt hat.“ Sanin lacht. Aber nicht lauthals, sondern zurückhaltend. So wie er eben ist.