Bozen – „Sitze im Bibliotheksraum.“ Die WhatsApp-Nachricht kommt fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin. Christian Girardi hat eigens den Raum im Bozner Hotel Mondschein reserviert. Er ist früh genug dran, hat alles schon vorbereitet. Vor ihm auf dem mächtigen Holztisch liegt sein Notizheft. Er hat sich 15 Punkte zurechtgelegt, um sie ja nicht zu vergessen. Christian Girardi ist einer, der sich Zeit nimmt für das, was er macht – mehr Zeit, als die meisten Menschen es in ihrem hektischen Alltag gewohnt sind. Wer mit ihm zu tun hat, macht schon mal die Erfahrung, dass da unterschiedliche Zeitvorstellungen aufeinanderprallen: auf der einen Seite die auf Effizienz Getrimmten, auf der anderen Seite der auf Reflexion Bedachte.
Kontakte sind der rote Faden
Weiße Sneakers, blaue Jeans, schwarzer Rollkragenpulli: Christian Girardi kommt mit lässiger Kleidung zum Treffen mit der SWZ. Zuvor stand eine familiäre Verpflichtung im Terminkalender. Der 45-Jährige, der mit seiner Familie in Birchabruck im Eggental und in Riva del Garda lebt, ist Vater von Zwillingen. „Sie sind Zwillinge in dritter Generation“, schmunzelt Girardi. Er hat ebenfalls einen Zwillingsbruder, zudem ist seine Mutter ein Zwilling.
Christian Girardis Kinder „sind Zwillinge in dritter Generation“.
Christian Girardi hat in seinem Leben schon viele verschiedene Jobs gemacht (siehe Info). Sie alle verbindet ein roter Faden: Kontakte. Kontakte haben ihn weitergebracht, und Kontakte will er auch selbst ermöglichen. Ein unermüdlicher Netzwerker wird Girardi genannt, einer, der ohne Berührungsängste auf Menschen zugeht. Er selbst fasst das Bild weiter: Ja, er baue Brücken zwischen Menschen („Ich habe einen diplomatischen Drang“), er baue aber genauso thematische Brücken.
Deswegen gibt es das Global Forum Südtirol, kurz GFS, wo Girardi seit 2009 Menschen zusammenbringt, damit sie sich Zeit nehmen, um jährlich wechselnde Schwerpunktthemen über disziplinäre Grenzen hinweg ausgiebig zu reflektieren und zu diskutieren, auch darüber zu philosophieren. Das tut er nämlich selbst gerne. Im vergangenen Jahr ging es um die Intuition, heuer im September geht es um die Wahrheit.
Christian Girardi hat sich auf das Gespräch vorbereitet, so, wie er das immer macht. Lieber investiert er Zeit, als etwas dem Zufall zu überlassen. Dabei könnte er dem Zufall durchaus vertrauen, denn dieser war in seinem Leben eigentlich immer gut zu ihm.
Mailand, München und dann Zug
Aufgewachsen ist er in St. Florian bei Laag in der Gemeinde Neumarkt – der Vater Direktor der Raiffeisenkasse Salurn, die Mutter Hausfrau –, maturiert hat er an der Handelsoberschule Bozen mit der Höchstnote 60. Damals war Girardi ein passionierter Mountainbiker, der bis zu 15.000 Jahreskilometer herunterspulte. Der Traum vom Sportstudium platzte bei der Aufnahmeprüfung: „Ich bin am Geräteturnen gescheitert“. Also studierte Girardi stattdessen Wirtschaft, dazu zwei Semester Recht, inklusive Auslandsaufenthalt an der University of New Orleans.
Der Traum vom Sportstudium platzte bei der Aufnahmeprüfung: „Ich bin am Geräteturnen gescheitert“.
Nach den Studienjahren in Innsbruck ergab sich eine berufliche Etappe aus der anderen. Christian Girardi beschreibt das so: „Da cosa nasce cosa“. Von Bozen ging es nach Mailand, nach München, nach Zug und wieder zurück nach Bozen (siehe Info). Die Spontaneität, mit der sich Girardi jeweils auf Neues einließ, ist das pure Kontrastprogramm zu seiner ansonsten akribischen, auch detailverliebten Art.
Wenn Christian Girardi erzählt, dann verliert er sich gern. Er holt aus, schweift vom Thema ab, verirrt sich in Gedankengängen („Wie bin ich jetzt auf das gekommen?“) und entpuppt sich als Lexikon der Beziehungen: Girardi weiß, wer mit wem was und warum zu tun hat. Der Mann ist ein Denker – und er denkt in Netzwerken.
Die Erkenntnis, dass Bekanntschaften Türen öffnen, die sonst nie aufgehen würden, hat Christian Girardi in jungen Jahren zweifelsohne geprägt. Zum Beispiel machte ihn der Brunecker Andreas Schneck auf einen Job bei Siemens in München aufmerksam. Ein Südtiroler hilft einem anderen Südtiroler: Diese Erfahrung war mitentscheidend dafür, dass Girardi 2003 während seiner Münchner Zeit mit Gleichgesinnten Südstern ins Leben rief, das Netzwerk der Südtiroler:innen im Ausland. Girardi wurde zum Gründungspräsident und zum Gesicht von Südstern. Enorm viel Zeit investierte er, um das Netzwerk bekannt zu machen und Landsleute in aller Welt dafür zu begeistern.
Rund tausend Südsterne in über 80 Ländern der Welt zählte das Netzwerk, als Girardi 2009 nach sechs leidenschaftlichen Jahren die Präsidentschaft abgab, freilich nicht ganz harmonisch.
Rund tausend Südsterne in über 80 Ländern der Welt zählte das Netzwerk, als Girardi 2009 nach sechs leidenschaftlichen Jahren die Präsidentschaft abgab, freilich nicht ganz harmonisch. Es gab Meinungsverschiedenheiten, wie sich Südstern entwickeln sollte. Und es stand auch der Vorwurf im Raum, Girardi stelle sich medial zu sehr in den Mittelpunkt. Rückblickend sagt Girardi: „Ich habe sicher meine Fehler gemacht. Aber Südstern war ein emotionales Thema für mich. Das war ein bisschen mein Baby.“
Das GFS und die Politik
Seine Finger spielen mit dem Kugelschreiber, während er von der Südstern-Zeit erzählt. Der Blick schweift durch den Raum mit dem großen Bücherregal. Dann unterbricht sich Girardi plötzlich selbst: „Solche Gespräche bringen mich zum Reflektieren.“ Girardi rückt mit dem Zeigefinger die markante Brille zurecht.
Es liegt auf der Hand, dass das „Global Forum Südtirol“ als Konkurrenzprojekt wahrgenommen wurde, als er es 2009 gleich nach dem Ende der Südstern-Präsidentschaft ins Leben rief. Als solches war das GFS nie konzipiert, beteuert Girardi: „Südstern bringt Menschen zusammen, das GFS Menschen und Themen.“ Er versteht das GFS als Denkfabrik, die Südtirol Impulse anbietet. Wichtig ist ihm das interdisziplinäre Querdenken, das Akzeptieren unterschiedlicher Sichtweisen und das Diskutieren auf Augenhöhe. „Das GFS sucht Verbindendes in Zeiten der Polarisierung“, sagt Girardi, und es klingt wie ein politisches Statement.
Die Landtagskandidatur 2018 für das damals neue Team K endete mit 1.669 Vorzugsstimmen auf Platz 13 der Liste.
Tatsächlich ist Girardi ein politischer Mensch. Er hat vor einigen Jahren gemeinsam mit dem Schweizer Uniprofessor Reiner Eichenberger sogar ein „White Paper“ verfasst, wie in Südtirol das polarisierende Gegeneinander von Mehrheit und Opposition überwunden und das Wahlgesetz nach Schweizer Vorbild verbessert werden könnte (SWZ 23/18, nachzulesen hier und in der SWZapp). Kurzzeitig hatte er auch geglaubt, Südtirols politisches System vielleicht am besten von innen verändern zu können: Die Landtagskandidatur 2018 für das damals neue Team K endete mit 1.669 Vorzugsstimmen auf Platz 13 der Liste.
Wenn Girardi über die Politik spricht, wird er lauter. Er untermauert das Gesagte, indem er mit den Fingerspitzen auf den Holztisch klopft. „Der politische Diskurs ist kein Diskurs mehr“, bemängelt er. Er wünscht sich „einen echten Wettbewerb der Ideen“, und „die Opposition endlich in die Verantwortung zu bringen“.
Die Firma Braindock
Wer Christian Girardi kennt, bescheinigt ihm die Eigenschaft, Menschen von einer Sache zu überzeugen. Er sei ungemein beharrlich – bis an den Rand der Lästigkeit. „Beharrlich“ nennt sich Girardi auch selbst.
Dass die Leute sich fragen, was „der Girardi“ abseits vom GFS macht, lässt ihn schmunzeln. „Das GFS ist ein Knochenjob. Es ist seit 2018 mein Hauptberuf“, sagt er. Damals habe er den sicheren Job bei der Volksbank auch deshalb gekündigt, weil es ihn nicht befriedigt habe, das GFS nur so nebenbei zu organisieren. „Das GFS wurde professionalisiert. Es hat mittlerweile rund 75 Partnerfirmen“, so Girardi. Die jährliche Haupttagung im September sei nur die Spitze des Eisbergs, dazu gebe es kleinere Satellitenveranstaltungen. Nebenbei ist Girardi „als Sparringpartner für ein paar Firmen“ tätig, erzählt er. Es sei „nicht Beratung, nicht Coaching, sondern Sparring“. Recht viel mehr verrät er nicht.
Derzeit arbeitet Braindock an einem Projekt, das mit Schönheit zu tun hat, einem früheren GFS-Thema.
Alle Tätigkeiten, auch das GFS, laufen über Braindock. Das Unternehmen hat Girardi einst gemeinsam mit dem ehemaligen VW-Manager Zeno Kerschbaumer („mein Business Angel“) in der Schweiz gegründet und dann nach Bozen übersiedelt. Derzeit arbeitet Braindock an einem Projekt, das mit Schönheit zu tun hat, einem früheren GFS-Thema. Das ist aber noch nicht spruchreif. Ein Büro hat Braindock nicht. „Wir sind schlank“, so Girardi. Deswegen das Treffen in der Mondschein-Bibliothek.
Christian Girardi geht die 15 Punkte in seinem Notizheft durch. Hat er etwas Wichtiges vergessen? Es gäbe noch so vieles zu besprechen. Nach dem Treffen schickt Girardi im Abstand von ein paar Tagen zwei Mails. Ihm sind noch Dinge eingefallen. Zeit investiert er nicht nur in die Vorbereitung, sondern auch in die Nachbereitung.
Info
Einmal Bozen und zurück
Bei Pensplan Invest in Bozen fand Christian Girardi 2001 nach dem Wirtschaftsstudium in Innsbruck seinen ersten Job. Berufsbegleitend schrieb er die Diplomarbeit über die Performance-Messung von Pensionsfonds. Dabei kam ein Kontakt zum global tätigen Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers zustande, für das Girardi ein knappes Jahr in Mailand verbrachte. Ein weiterer Kontakt aus jener Zeit war der Brunecker Andreas Schneck, der in London in der Finanzbranche arbeitete und Girardi auf ein Stellenangebot in der Pensionsfonds-Abteilung von Siemens in München aufmerksam machte. Girardi bewarb sich und bekam den Job.
Von Mailand ging es nach München. Das war 2003 und zugleich das Geburtsjahr von Südstern, dem Netzwerk der Südtiroler:innen im Ausland. Girardi war eine der treibenden Kräfte und Gründungspräsident.
Bei Siemens blieb Girardi bis 2006, als ihn Pensplan-Generaldirektor Michael Atzwanger für die Idee begeisterte, am Aufbau eines länderübergreifenden Zusatzrentenfonds unter dem Dach von Pensplan mitzuwirken. Die beiden kannten sich aus der gemeinsamen Pensplan-Zeit, auch gehörte Atzwanger zu den Südsternen der ersten Stunde.
Das Projekt versandete nach einem Jahr, weshalb Christian Girardi 2007 sein eigenes Unternehmen gründete – allerdings nicht in München, sondern im Schweizer Kanton Zug. Den Impuls gab wieder ein Südtiroler: Wolfgang Sparer. Mit Braindock – der Firmenname steht für „Gehirne andocken“ – baute Girardi für interessierte Regionen Botschafternetzwerke nach Südstern-Vorbild und vermittelte Businesskontakte für Südtiroler Unternehmen.
2015 kehrte Christian Girardi nach Bozen zurück. Er wurde Kommunikationsleiter der Volksbank. „Kommunikation und Finanzen, das passte zu mir“, sagt er. Restlos glücklich wurde er trotzdem nicht. 2018 ging Girardi mit Braindock zurück in die Selbstständigkeit. Den Sitz der Gesellschaft hatte er mittlerweile von Zug nach Bozen verlegt.