SWZ: In den USA setzt Donald Trump seine architektonische Agenda fort. Er hat ein erneutes Dekret zur „Schönheit“ öffentlicher Bauten erlassen, wie schon in seiner ersten Amtszeit. Inwiefern gibt es hierzulande politische Einflussnahme auf Dorf- und Stadtbilder?
Walter Angonese: Die anspruchsvollere Architektur der vergangenen 30 Jahre in Südtirol entstand durch eine Initialzündung der öffentlichen Hand. Die Bauabteilung des Landes Südtirol und später Josef March, der ehemalige Landesbaudirektor, ließen beispielgebende Bauten realisieren und stellten dadurch eine Benchmark auf, die für die Architekturszene in Südtirol der letzten 40 Jahre sehr wichtig war. Das Land Südtirol ist also nicht durch Gesetze bezüglich einer anspruchsvollen Baukultur aktiv geworden, sondern durch eine hochwertige Wettbewerbskultur und die Beauftragung anspruchsvoller Architekten.
Das Land hatte also beispielgebende Funktion.
Genau. Seine Haltung schwappte später teilweise auf die Gemeinden über. Wenn sich die öffentliche Hand auf diese Funktion rückbesinnen würde, könnte es wieder viel besser werden, was qualitativ hochwertige Architektur betrifft: mehr Baukultur anstelle eines rein ökonomisch determinierten Denkens.
Im Trump’schen Dekret ist der Schönheitsbegriff zentral. Was bedeutet er für Sie persönlich?
Schönheit ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Schönheit ist Gleichgewicht, ist Harmonie der verschiedenen Elemente, sei es physischer als auch ideeller Natur. Den Begriff kann man deshalb durchaus empirisch definieren. Das betrifft die Architektur wie jede andere Disziplin. In der Architektur hat Schönheit also nicht nur mit Größen und Proportionen zu tun, sondern auch mit Materialien, mit dem Wissen, dem Erfahrungs- und Erkenntnisschatz jedes Einzelnen. Jedes Material hat eine semantische Dimension, erzählt etwas. Wenn ich jemanden sagen höre: „Das ist nicht schön“, handelt es sich meist um eine unreflektierte persönliche Aussage, die ich als Intuition akzeptiere, nicht aber als reflektierte Kritik. Das soll nicht implizieren, dass Architekten mit Ausbildung die Deutungshoheit innehaben, sondern dass Kritik fundiert geäußert werden sollte.
Trotz empirischer Definition wird am Ende jeder Architekt und jede Architektin ein eigenes Verständnis von Schönheit haben.
Davon gehe ich aus, ja. Aber wie gesagt, es geht um einen reflektierten und nicht intuitiven Schönheitsbegriff – und um selbstkritisches Handeln. Der Wiener Architekt und Theoretiker Hermann Czech meint dazu, dass jede Entscheidung einer Reflektion bedürfe. Erst dann kann Schönheit entstehen.
Inwiefern besteht die Gefahr, dass das Gesamtbild eines Dorfes oder einer Stadt nicht stimmig ist, wenn jede und jeder sein eigenes Verständnis von Schönheit hat?
Wir Architekten tendieren allzu oft dazu, mit einem Stil- oder Formbegriff zu arbeiten anstelle eines Schönheitsbegriffs im Sinne einer Ganzheitlichkeit. In Südtirol ging die erste Nachkriegsgeneration – Barth, Maurer, Plattner, Planungsgruppe Meran, Prey, Zoeggeler, später die Vinschgauer Kollegen – vorwiegend aus österreichischen und italienischen Schulen hervor. Diese Bauten wirken heute noch so schlüssig, weil ihr architektonischer Ansatz kritisch und von der Symbiose zwischen dem Ort und der Aufgabe geprägt war. Meine Generation, und noch mehr die jüngere, hat in der halben Welt studiert und kommt mit einer ganz anderen Vielfalt an Formensprache und Architekturansätzen zurück. Diese Vielfalt spiegelt sich im Landschaftsbild oder urbanen Bild wider. Das Objekt als solches steht im Vordergrund. Gerade bei den ersten Aufträgen möchten sich junge Architekten profilieren. Es braucht einiges an Erfahrung und selbstkritischem Denken, um zu verstehen, dass nicht das Einzelobjekt zählt, sondern das gemeinsame Ganze. So sollte Architektur eigentlich gedacht werden. Früher hat man das über Bauordnungen geschafft. Solche haben wir zwar immer noch, aber sie sind meist rein baurechtlich determiniert, wurden vom Gemeindenverband auf Landesebene konzipiert, von den Gemeinden übernommen und kaum verändert. Das heißt, sie spiegeln nicht die kontextuelle Vielfalt wider und sind nicht mehr als ein bürokratisches Hilfsmittel.
Wie könnte es besser gehen?
Im Sarntal gingen Architekten sehr gut mit der von der Gemeindeverwaltung eingeforderten Auflage um, Satteldächer bauen zu müssen. Wenn man sich zumindest in jedem Gebiet, zum Beispiel Überetsch oder Unterland oder Eisacktal, auf eine spezifische Bauordnung berufen könnte, die den typologischen, historischen, sozialen und auch zeitgenössischen Kontext reflektiert, die gut formuliert ist, dann würde ein wirkliches Weiterbauen entstehen und nicht diese extreme Heterogenität, wie wir sie aktuell haben. Die kann man durchaus als zu viel, als zu heterogen für eine ganzheitliche Stimmigkeit ansehen.
Also könnte man mehr in Richtung Homogenität zielen?
Ich möchte vorausschicken, dass ich nicht für den sprichwörtlichen „Einheitsbrei“ stehe, weshalb Homogenität nicht zielführend als Vorgabe wäre. Ich meine mehr das „Zwischenräumliche“ oder zumindest die Suche danach, weg von zu viel Homogenität, aber weit genug weg von zu viel Heterogenität. Der Schweizer Architekt Gion A. Caminada spricht von einem „Mehr vom Gleichen“. Warum hat zum Beispiel der Markt in Kaltern als Ortsteil eine solche Kraft? Weil Mehr vom Gleichen in unterschiedlicher Umsetzung vorhanden ist. Ich bin eher ein Gegner eines absoluten Architekturliberalismus. Wir haben genug experimentiert.
Können Sie das genauer erklären?
Wohlstand gehört kulturpolitisch begleitet, das predige ich schon seit Langem. Kultur muss auf seine gesellschaftspolitische Breitenwirkung hinterfragt und so kritisch begleitet werden – Stichwort Förderungen. Ansonsten geht das kulturelle Bewusstsein verloren. Heute informieren Bauherren oder auch Bauträger sich vor allem über die sozialen Medien. Sie agieren dadurch im Grunde teilweise nur noch „geschmacklerisch“, marktorientiert oder denken in langweiligen Stereotypen, die man schon vielfach gesehen hat. Wenn ich Instagram oder Pinterest öffne und nach Architektur suche, erhalte ich eine unreflektierte Masse an Architekturmüll. Dabei ist in der Architektur ein symbiotisches Zusammenspiel zwischen Bauherren bzw. Bauträgern und Architekten essenziell.
Das heißt?
Es braucht Bauherren und Bauträger, die Mut haben, aus Klischees und modischen Stereotypen auszubrechen, um im Spezifischen des Ortes das Wahre – nicht die Ware – zu finden. Wenn ein guter Architekt etwas vorlegt, ohne auch sehr kritische Rückfragen vom Bauherrn zu erhalten, ist das Ergebnis meistens nicht scharf genug. Man sieht dem Projekt vielleicht einen guten Formwillen an, aber das Zwischenräumliche, die Spannungen, das Spezifische im Kontext eines großen Ganzen, das jeder in seinem Haus haben möchte, ist dann nicht vorhanden.
Wie optimistisch sind Sie, dass Südtirols baulicher Charakter bestehen bleibt?
Wenn so auf Teufel komm raus weitergebaut wird, habe ich keine großen Hoffnungen, dass das Wesen und der Charakter unseres Landes im Siedlungsgebiet erhalten bleiben, außer in den historischen Zentren. Ein baulicher, aber auch raumordnerischer Ansatz, dem ich während meiner Wanderungen durch Siedlungsräume gerne nachträume, könnte zum Beispiel sein, jedem zu ermöglichen, ein Dach auf sein pseudomodernistisches „Kistl“ zu setzen. Dann entstünde direkt eine ganz andere Wahrnehmung des Landschaftsbildes, mehr gewohnte Beziehungen. Ein Dach ist nicht nur Schutz oder Volumen, sondern auch landschaftliche und urbane Topografie. Es hilft, eine Beziehung zur Landschaft herzustellen.
Eine häufige Herausforderung von Bauherren,Planerinnen und Planern ist die Erweiterung von Bestand. Wie kann diese am besten gelingen?
Mit Empathie und Respekt für das Bestehende und für Gemeinschaftliches, ohne allzu ängstlich zu sein. Das Ergebnis kann trotzdem zeitgenössisch sein. Es geht darum, Bezüge zum Vorhandenen zu schaffen und Dinge zusammenzuführen, die zusammengehören. Ich frage mich ohnehin, wieso wir nicht viel mehr verdichten und oben draufbauen.
Sprechen wir über eine spezifische Gebäudegruppe: Hotelbauten. Ihre Architektur ist oft Anlass für Kritik. Zurecht?
Die Frage ist vielfach: Wo werden sie gebaut? Es gibt leider zu oft die Möglichkeit, und mehr noch den Anreiz, in die unverbaute Landschaft etwas Schönes hinzustellen – nicht nur für Urlaub am Bauernhof, eine Typologie, die zusehends pervertiert wird und ihre ursprüngliche noble Absicht damit verleugnet. Wir Architekten tendieren dann sehr schnell dazu, etwas Ikonisches bauen zu wollen. Wenn wir keine baukulturellen, ortsspezifischen Parameter vorfinden, entsteht leider häufig eine stereotype Mittelmäßigkeit. Es entstehen Sachen, die wir andernorts schon sehr oft gesehen haben und die zu wenig spezifisch für den Ort sind, wo sie entstehen sollen. Es gibt mittlerweile aber auch gute Beispiele. Nicht passend im Sinne einer architektonischen oder baukulturellen Betrachtung ist hingegen leider allzu oft der Umgang mit Bestehendem. Ich verstehe, dass aus finanziellen, aber auch persönlichen Gründen, die zweite oder dritte Generation das Alte nicht immer gleich überformen kann, trotzdem entstehen architektonisch allzu oft starke Unstimmigkeiten zwischen dem Bestand und dem Neuen. Da müsste man eingreifen und ein Moratorium beschließen: „Du baust den neuen Teil und musst innerhalb von fünf oder zehn Jahren für eine Harmonisierung durch Überformung des Alten sorgen.“
Was könnte zu mehr Affinität für Architektur auf politischer Ebene beitragen?
Wenn ich einen Wunsch anbringen dürfte, dann würde ich sehr gerne mal alle Entscheidungsträger – Landesräte, Landtagsabgeordnete und Bürgermeister – in ein Seminar stecken zu den Themen Schönheit, Harmonie, Gestaltung und Raumordnung, wie sie eigentlich gedacht und praktiziert gehört. Gerade bezüglich Raumordnung fehlt sehr häufig fachspezifisches Wissen – oder dieses wird nicht ernst genug genommen. Allzu oft sind wichtige Entscheidungen nur anlassorientiert, oft auch nur von privaten Interessen gewisser Kräfte geleitet. Ich unterstelle keinem Südtiroler Bürgermeister unedle Absichten, aber Raumordnung kann nicht nur wirtschaftspolitisch, rein juridisch oder verwaltungstechnisch gedacht werden. In den vergangenen 20 Jahren ist die Raumordnung in Südtirol mehrheitlich von Juristen gemacht und kontrolliert worden. Und so sieht es im Landschaftsbild oft auch aus.
Woraus besteht Raumordnung noch?
Aus öffentlichem Interesse, wobei die Summe der Einzelinteressen nicht das öffentliche Interesse darstellt, wie vielfach praktiziert wird. Aus Projektionen in die Zukunft, nicht ohne kritische Analysen in die Vergangenheit. Aus ganzheitlich orientierter Planung, ja vielleicht heute auch aus Partizipation, aus einem interdisziplinären Zugang zur komplexen Thematik des „Ordnens eines Raumes“. Aus Methodik. Daraus entstehen Projekte, die das „Öffentliche“, das Gemeinschaftliche in den Vordergrund stellen, aber auch das Füllen der Zwischenräume mit den privaten Bedürfnissen der Jetztzeit. In neuen Zonen gibt es vielleicht einen Spielplatz, aber das allein ist kein gemeinschaftlicher Ort, um alle zusammenzuführen, um Gemeinschaft entstehen zu lassen.
Denken Sie bei Projektionen in die Zukunft an die Gemeindeentwicklungspläne?
Die gibt es mittlerweile zwar zuhauf, und sie sind partizipativ entstanden, ihre praktische Umsetzung in konkrete raumordnerische Prinzipien hat aber noch sehr viel Luft nach oben. Da lobe ich mir dann doch die Bauleitpläne der ersten Generation – nach 1972 –, wo starke Ideen zur Entwicklung Südtirols von starken Planern und Politikern mit starkem Profil geschaffen wurden, die dann über die Jahrzehnte hinweg allzu oft zu Fleckerlteppichen verkommen sind. Im besten Falle rein pragmatisch gedacht, in anderen meist interessengeleitet.
Interview: Sabina Drescher
Info
Zur Person: Walter Angonese
Walter Angonese ist Architekt. Der Kalterer unterrichtet zudem als ordentlicher Professor an der Accademia d‘Architettura der Università della Svizzera italiana in Mendrisio im schweizerischen Tessin, die er seit vier Jahren auch als Dekan leitet. Seine Architektur genießt internationalen Ruf. Bekannt ist er unter anderem für seine Museumsumbauten, Restaurierungen, Weinarchitektur, Kunsträume und für mehrere Privathäuser im In- und Ausland. Er war mehrere Jahre Vorsitzender des Gestaltungsbeirates der Stadt Salzburg sowie Mitglied des Kollegiums für Landschaftsschutz. Angonese wirkte in zahlreichen internationalen Kommissionen zu urbanen und ländlichen Gestaltungsfragen. Derzeit ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Unesco-Stiftung Dolomiten.