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Neuwahlen: Warum Rom schnell eine neue Regierung braucht

WAHLEN/REGIERUNG – Italien hat nur mehr eine geschäftsführende Regierung, am 25. September wird ein neues Parlament gewählt, und es ist fraglich, ob rasch eine neue Exekutive installiert werden kann. Dabei wartet ein umfangreiches Pflichtenheft. Wird es nicht fristgerecht abgearbeitet, droht jede Menge Ungemach.

Robert Weißensteiner von Robert Weißensteiner
5. August 2022
in Italien
Lesezeit: 6 mins read

Foto: Shutterstock

Bozen/Rom – Mario Draghis Regierung der nationalen Einheit war zuletzt eine Regierung des parteipolitischen Zwiespalts. Der ehemalige Zentralbanker wurde – wie einst Mario Monti – in einer Notsituation gerufen. Draghis Vorgänger, dem heutigen 5-Sterne-Chef Giuseppe Conte, war es nämlich nicht gelungen, einen Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza (Pnrr) zu verabschieden, der Chancen gehabt hätte, das Placet der EU-Kommission zu erhalten. Das war aber die Voraussetzung dafür, dass die von Conte ausgehandelten Hilfsgelder im Ausmaß von rund 200 Milliarden Euro nach und nach in Teilzahlungen überwiesen werden. Draghi ist es gelungen, den Plan durchs Parlament zu bringen, und Brüssel hat die geplanten Vorhaben am 13. August letzten Jahres gutgeheißen. Seither laufen die Vorbereitungen für die umfangreichen Investitionen in zukunftsträchtige Bereiche, die zum Teil vom Staat selbst, zum Teil von den Regionen bzw. autonomen Provinzen und von den Gemeinden getätigt werden sollen. Das, was darüber bekannt ist, gibt Anlass zu Hoffnungen, aber auch zu einer guten Portion Skepsis. So manche Vorhaben haben nämlich wenig mit NextGeneration am Hut, sondern sind stark auf das Hier und Heute ausgerichtet, auch in Südtirol, wo Pnrr-Gelder unter anderem in die Restaurierung von Kapellen und Bildstöcken fließen, mit dem Vorwand, dass deren Erhaltung im Interesse der Jugend liegt.

Nach Draghis Scheitern: Was kommt?

Draghi hat dank seiner durch internationales Ansehen begründeten Autorität und seiner Art, die Dinge anzupacken, im Laufe eines Jahres viel erreicht. Aber die Parteien, die eigene Interessen ungern hintanstellen, hatten bei so manchen Entscheidungen nach und nach immer öfter Bedenken. Die Zündschnur zum Brennen gebracht haben dann Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Ukraine-Politik, die zum Austritt von Außenminister Luigi Di Maio aus der 5-Sterne-Bewegung geführt haben, und ein umfangreicher Forderungskatalog von Parteichef Conte, der unter anderem ein Steckenpferd der pentastellari­ beinhaltet, nämlich den Fortbestand des Bürgereinkommens. Zuletzt haben gute Umfragewerte die Mitte-rechts-Parteien veranlasst, die Gunst der Stunde zu nutzen, in der Hoffnung, Neuwahlen zu erzwingen und aus diesen siegreich hervorzugehen. Ob Lega-Chef Matteo Salvini (Wahlslogan Salvini Premier) eine Giorgia Meloni von der Rechtspartei Fratelli d´ Italia als Regierungschefin schlucken und wie die EU dies aufnehmen würde, ist eine andere Frage. Ministerin war Meloni schon einmal, und zwar im vierten Kabinett Berlusconi. Dieser hat sie vorige Woche aber vorsorglich als Premier-Anwärterin abgelehnt, und zwar mit dem Hinweis, sie sei für politisch gemäßigte Gruppen nicht wählbar. Meloni hat mit einem Bekenntnis zur EU- und NATO-Partnerschaft und dem Hinweis reagiert, Italien werde mit ihr als Regierungschefin alle eingegangenen Verpflichtungen einhalten und mit Brüssel kooperieren. Letztendlich sind die Parteien dieses Lagers übereingekommen, dass die stimmenstärkste Partei den Ministerpräsidenten bestellen darf.

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Es muss verschiedene Dekrete verabschieden, die verfallen, wenn sie nicht rechtzeitig, also innerhalb von 60 Tagen, in ein ordentliches Gesetz umgewandelt werden. Auch gilt es, eine Reihe von Entscheidungen bezüglich des Pnrr zu treffen.

Bis zu den Neuwahlen bzw. zur Bildung einer neuen Regierung sind Draghi und sein Team im Amt. Die Regierung muss sich bis dahin auf die reine Verwaltung beschränken, also auf die Ausführung von bereits getroffenen Beschlüssen, während auf das vom Staatspräsidenten aufgelöste Parlament noch einige Arbeit wartet. Es muss verschiedene Dekrete verabschieden, die verfallen, wenn sie nicht rechtzeitig, also innerhalb von 60 Tagen, in ein ordentliches Gesetz umgewandelt werden. Auch gilt es, eine Reihe von Entscheidungen bezüglich des Pnrr zu treffen.

Dass es unverantwortlich war, in der gegenwärtigen Situation eine Regierungskrise auszulösen, zeigt ein Blick auf die Wirtschaftsprognosen des IWF – für Italien wird ein sehr dürftiges Wachstum erwartet –, auf die Entwicklung des Spread zwischen Bund und BTP, insbesondere aber auch auf die Aufgaben, die dringend erledigt werden müssen. Der gegenwärtige Stillstand erhöht die Gefahr, dass das, was zu tun ist, nicht mehr rechtzeitig erfolgt.

Die Umsetzung des Pnrr ist gefährdet

Die Herkulesaufgabe besteht wie erwähnt in der Durchführung der Investitionen, die im Rahmen des Pnrr geplant sind. Die italienische Vereinigung der Bauunternehmen (ANCE) hat durch eine Befragung der Mitgliedsunternehmen aufgezeigt, dass es diesbezüglich große Probleme gibt. Mit Stand vom Frühjahr waren bei rund 75 Prozent der in den Investitionsplänen enthaltenen Bauvorhaben die deutlich gestiegenen Preise von Baumaterialien noch nicht berücksichtigt worden. Das bedeutet, dass entweder die Mittel aufgestockt oder Projekte gestrichen werden müssen. Und nicht nur das: Die Firmen verfügen gar nicht über genügend Kapazitäten, eventuelle zusätzliche Aufträge ausführen zu können, denn in der Branche sind derzeit 260.000 Stellen unbesetzt. Der Personalmangel betrifft viele (oder beinahe alle) Sektoren, ist aber in der Bauwirtschaft besonders ausgeprägt. Dabei gibt es in Italien an die zwei Millionen Arbeitslose, davon die Hälfte Langzeitarbeitslose. Die Interpretation dieses Widerspruchs gerät zum weltanschaulichen Kräftemessen, wobei die Kritiker des gegenwärtigen Systems von Arbeitslosengeld und Bürgereinkommen anmerken, dass ganz offensichtlich vielfach Sozialhilfe einer Erwerbsarbeit vorgezogen wird.

Zu den Schwierigkeiten, die Arbeiten ausführen zu können, kommt der Umstand, dass die Projektierung stockt, auch wegen vieler bürokratischer Hürden, die nach wie vor bestehen und überwunden werden müssen. Laut einem Bericht der Tageszeitung Corriere della Sera sind die Regionen und insbesondere die Gemeinden mit der Planung in zwei Dritteln der Fälle nicht über Machbarkeitsstudien oder Vorprojekte hinausgekommen. Ihre Strukturen, so das Blatt, sind nicht in der Lage, in einem Tempo zu agieren, das eine rechtzeitige Ausarbeitung der Pläne und eine rasche Ausschreibung und Vergabe der Arbeiten ermöglicht. Dazu kommt, dass es diesbezüglich weiterhin sehr komplizierte Regeln gibt und eine weit reichende Reform aussteht. Der bereits vor mehreren Jahren geschaffene Fonds für die Projektierung durch Lokalkörperschaften (Fondo per la progettazione degli Enti locali), der durch Dekret vom August letzten Jahres bis 2023 dotiert worden ist und zu dem am 8. Juli Direktiven erschienen sind, reicht nicht, denn die Nachfrage übersteigt die bereitgestellten Mittel um das Sechsfache.

Was alles sehr schnell zu tun ist

Am 25. September wird gewählt, am 13. Oktober werden die beiden Kammern des Parlaments zum ersten Mal zusammentreten, um Präsidenten und Präsidium zu wählen, und dann kommt es darauf an, wie rasch eine neue Regierung gebildet werden kann, die erstens an einem Strang zieht und zweitens gewillt ist, die gegenüber der EU eingegangenen Verpflichtungen durch entsprechende Maßnahmen und Gesetzesinitiativen zu erfüllen. Brüssel schaut seit dem erzwungenen Rücktritt Draghis besorgt und deshalb mit Argusaugen nach Rom und scheint gewillt, streng darüber zu wachen, dass Regierung und Parlament die Zusagen bezüglich Pnrr, Haushalt und Reformen auch einhalten. Derzeit ist die Position der EU recht stark, weil sie am Geldhahn sitzt und diesen zudrehen könnte. Allerdings zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass die Kommission zuweilen ein Auge zudrückt, um europafeindlichen Tendenzen keine Nahrung zu geben.

Zu den vordringlichen Aufgaben der zukünftigen Regierung gehört die Ausarbeitung und Genehmigung des Haushalts 2023. Dies ist insofern eine brisante Angelegenheit, als einerseits weitere Ausgaben zur Stützung der Wirtschaft und der unter der Inflation stöhnenden Familien notwendig scheinen und anderseits eine Kehrtwende in der Defizitpolitik unumgänglich ist. Die hohen Staatsschulden sind nämlich angesichts der tendenziell ansteigenden Belastung durch Zinszahlungen eine ernsthafte Gefahr für die öffentlichen Finanzen. Auch die von der EZB angekündigten Hilfen zur Eindämmung einer Ausweitung des Spread und damit der Renditen für neu zu begebende Schuldverschreibungen sind an Bedingungen geknüpft.

Nicht bloß die Märkte und die Brüsseler Bürokraten würden es nicht verstehen, wenn die römische Politik nach Draghi wiederum eine Mischung aus Infotainment und reiner Machterhaltung würde.

Die neue Regierung und das neue Parlament müssen rasch handeln, nicht bloß mit Blick auf den Pnrr. Eine Reform der Steuerkommissionen steht an, das Wettbewerbsrecht muss geändert werden (darüber wurde in den letzten Monaten mit Blick auf die Lizenzen der Badestrandbetreiber heftig gestritten), es wird notwendig sein, im Rahmen einer spending review die Ausgabenposten grundlegend und mit neuen Schwerpunktsetzungen zu überarbeiten, die Reform der Prozessordnungen muss umgesetzt werden, denn Brüssel verlangt eine Verringerung der Verfahrensdauer von Zivilprozessen um mindestens 40 Prozent. Dies liegt auch im Interesse Italiens und seiner Bürger:innen und ist eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Ausländische Unternehmen sehen nämlich derzeit auch deshalb von Investitionen in Italien ab, da es schwierig ist, bei Gerichtsverfahren innerhalb vertretbarer Zeiten ein Urteil zu erhalten.

Der Corriere hat in dem genannten Artikel folgendes Resümee gezogen: „Wenn die notwendigen raschen Entscheidungen ausbleiben, dann wird das nicht nur zur Folge haben, dass die Ende 2022 anstehende Rate im Ausmaß von 19 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds zurückgehalten wird. Wir werden darüber hinaus nicht die Voraussetzungen erfüllen, um die Hilfe der EZB zu erhalten, sollte dies notwendig werden, weil die Kosten für den Schuldendienst außer Kontrolle geraten. Noch schwerwiegender ist, dass nicht mehr klar wäre, in welche Richtung Italien marschiert. Nicht bloß die Märkte und die Brüsseler Bürokraten würden es nicht verstehen, wenn die römische Politik nach Draghi wiederum eine Mischung aus Infotainment und reiner Machterhaltung würde. Es wären in erster Linie die Italiener selbst.“

Schlagwörter: 30-22free

Ausgabe 30-22, Seite 13

Robert Weißensteiner

Robert Weißensteiner

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