St. Ulrich/Brixen – Mintgrün und blasstürkis sind die zwei Kärtchen, die Nadia Rungger auf den kleinen Tisch in einem Brixner Café legt. Sie sind mit Poesie bedruckt, das eine mit einem Auszug aus „f. sieht einen maulwurf“, das andere mit dem Gedicht „draußen gieße ich“. Beide stammen von Rungger selbst. Die 26-Jährige gilt als eine der vielversprechendsten Nachwuchsautorinnen Südtirols. Ihre Sprache wird als schnörkellos beschrieben, ohne Effekte und Kapriolen. Vier Preise hat Rungger allein im laufenden Jahr gewonnen, darunter den renommierten Irseer Pegasus und den Literaturpreis des Südtiroler Künstlerbundes.
„Ich empfinde es als große Bereicherung, dass Kunst in meiner Familie nicht nur Platz hat, sondern auch relevant ist“
Rungger stammt aus Gröden. Mit ihrer Kindheit dort verbindet sie vor allem die Natur, mit ihren „interessanten Flächen, uneben, mit unterschiedlichen Formen und Rhythmen“. Ihre Familie ist kunstaffin. Vater Klaus zeichnet, Mutter Eveline liest gern und viel, Schwester Linda studiert am Mozarteum Salzburg, Bruder Georg Medizin. „Ich empfinde es als große Bereicherung, dass Kunst in meiner Familie nicht nur Platz hat, sondern auch relevant ist“, sagt Rungger.
Erste Veröffentlichung in der 3. Mittelschule
Ihre Worte scheinen mehr zu wiegen als jene anderer. Oder zumindest mit mehr Bedacht gewählt zu sein. Sie erweckt den Eindruck, als überlege sie lieber einen Moment länger, um dann genau das Richtige zu sagen. Währenddessen lässt sie ihr Gegenüber die Stille aushalten, die aber keineswegs als unangenehm empfunden wird.
Dass ihre Sprache besonders ist, vor allem sobald zu Papier gebracht, wird Rungger bereits in der Mittelschule klar. In der dritten Klasse schreibt sie eine Schularbeit zum Thema Vielfalt. „Mit einem Lachen“ druckt die Eurac in einem Sammelband. Die Lehrerin gibt Rungger eine Zehn plus – und liest den Text ihren eigenen Kindern als Gutenachtgeschichte vor. „Es hat etwas in mir ausgelöst, zu erfahren, dass meine Texte es wert sind, weitererzählt zu werden“, erinnert sich Rungger an ihr erstes Schreiben für Publikum.
Unzählige Texte haben sich seither zu diesem gesellt. Mit ein Grund, wieso es so kam, ist Runggers Zweifeln. Früher als Schwäche empfunden, nimmt sie es heute an. „Es ist ein Teil von mir, der mich drängt, Texte zu verfassen.“ Jede ihrer Erzählungen und jedes ihrer Gedichte entstehe „in einem anderen Moment, ist in ihm wichtig und präsent“, erklärt Rungger. Aus diesem Grund könne sie sich auch nicht für ein liebstes Werk entscheiden. „Besonders in Erinnerung bleiben mir manche Gedichte, aber auch hier könnte ich kein einzelnes wählen. Sie stehen für verschiedene Stimmungen und tragen unterschiedliche Bedeutung. Je nachdem, wann ich eines davon wiederentdecke und erneut lese, löst es etwas anderes aus in mir.“
Intuitives Schreiben
Genau diese innere Bewegung ist es, die für Rungger einen guten Text ausmacht. Besonders stark findet die Autorin ambivalente Lyrik und Prosa, „eine, die zugleich verunsichert und tröstet, ohne in die eine oder andere Richtung zu kippen.“ Eine solche „kunstvolle Offenheit“ in Runggers Erzählung „Neues“ hob auch die Jury beim Irseer Pegasus hervor, den Rungger heuer gewann. „Als ich von meinem Sieg gehört habe, habe ich vor Freude geweint“, gesteht sie. Bewerben dürfen sich nur Personen, die bereits etwas publiziert haben. 220 waren es in diesem Jahr. Rungger und die elf anderen Finalistinnen und Finalisten verbrachten ein Wochenende in Irsee im Allgäu, wo intensiv über die einzelnen Texte diskutiert wurde.
„Es hat etwas in mir ausgelöst, zu erfahren, dass meine Texte es wert sind, weitererzählt zu werden.“
Entstanden ist „Neues“, wie es für Runggers Schreiben typisch ist: intuitiv. Nur einen Nachmittag brauchte sie dafür, vielleicht auch zwei Tage, das weiß sie gar nicht mehr so genau. Dann druckte sie den Text aus und trug ihn mit sich herum, bereit, ihn zu lesen, wann immer ihr danach war. „Ich wusste selbst nicht, was er bedeutet, was mich zunächst irritierte. Mittlerweile weiß ich, dass genau darin die Stärke liegt. Man muss sich ihm annähern. Es ist nichts Banales“, führt Rungger aus. Diese Intuition musste sie über die Jahre entwickeln. Ihre ersten Gedichte hatten noch ein Reimschema. Sie waren wie erste Schritte, stellt Rungger fest. „Danach geht es darum, eine Sprache zu finden, mit der man sich wohlfühlt. Und ich fühle mich mit meiner gerade wohl.“
Während des Schreibens sei sie dann wie an einem anderen Ort. „Ich habe das mal in einem Gedicht beschrieben“, sagt Rungger, und rezitiert daraus: „Ich weiß nicht, ob ich schnell vergesse, oder ob ich nicht da bin, wenn ich schreibe.“ Um dieses Gefühl nicht zu stören, liest Rungger in Zeiten des intensiven Schreibens nicht. „Ich möchte schreiben, was aus mir kommt.“ Bei Gedichten nutzt sie dazu Papier und Stift, denn sie entstehen oft unterwegs im Kopf. „Ich denke sie mit im Rhythmus beim Gehen. Dann schreibe ich sie auf und verbessere kaum etwas.“ Prosa hingegen tippt Rungger auf ihrer Tastatur.
Kann man davon leben?
Ihr erstes Buch „Das Blatt mit den Lösungen“ erschien 2020 im Weger Verlag. Rungger studierte gerade Germanistik in Graz, hatte wegen der Pandemie aber kaum Vorlesungen. Die Idee dazu war schon länger in ihr herangereift. Das Werk sollte ihre prämierten Texte enthalten, die in Anthologien oder Literaturzeitschriften erschienen waren, jedoch nirgends gesammelt vorlagen. Spannend sei es gewesen, einem Buch bei der Entstehung zuzusehen und selbst mitzuwirken von der Auswahl der passenden Reihenfolge der Texte über die Grafik bis hin zum Cover. Als Rungger im September das gedruckte Ergebnis in den Händen hielt, überwogen Freude und Aufregung, aber auch Erleichterung, dass sie sich damit identifizieren konnte. Für die erste Lesung kam eigentlich nur ein Ort infrage, die Heimat, St. Ulrich. „Die Veranstaltung war gut besucht. 70 Bücher habe ich an dem Abend verkauft. Das Interesse der Menschen zu spüren, ist immer ein schönes Gefühl“, sagt Rungger.
Heute, vier Jahre später, überlegt sie zwar eine Zeit lang, wenn man sie nach ihrer Berufsbezeichnung fragt, antwortet dann aber doch mit: „Autorin“. Aus Interesse studiert sie zwar noch nebenher Angewandte Linguistik in Brixen, allerdings räumt sie allen literarischen Projekten Vorrang ein. Eine Frage, die sie öfter hört: „Kann man davon leben?“ Tatsächlich sind Runggers Einnahmequellen vielfältig. Zum einen wären da die Preisgelder, die zugleich finanzielle Unterstützung, öffentliche Sichtbarkeit und ein Kompliment für den Text darstellen. „Allerdings kann man sich nicht darauf verlassen, sie zu erhalten“, stellt Rungger nüchtern fest. Geld nimmt sie auch durch Lesungen ein, die sie auf Einladung hält, nicht nur in Südtirol, sondern zum Beispiel auch in der Schweiz. Außerdem gibt es Honorare für gedruckte Texte und Ausstellungen. Eine davon, im Lanserhaus in Eppan, hat sie gemeinsam mit ihrem Vater organisiert – die Poesie von ihr traf auf die Zeichnungen von ihm. „Das habe ich als sehr schön empfunden. Der Prozess war intensiv. Wir haben viel geredet über das Entstehen von Kunst“, sagt Rungger.
Kaum Vorbilder fürs Wirtschaftliche
Im Repertoire der Grödnerin findet sich noch mehr. Im Frühling hat sie ein Theaterprojekt realisiert. Das Stück „Morvëies“ („Wunder“) wurde in Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Bruneck im Rahmen des europäischen Projekts phōnē aufgeführt. Überdies ist sie freie Mitarbeiterin für die Radiosendungen von Rai Ladinia. Eine weitere Einnahmequelle sind Stipendien. „Im Moment“, fasst sie zusammen, „geht es mir wirklich gut“. Allerdings gebe es durchaus noch Lernpotenzial. Oft sei schwierig abzuschätzen, wie viel Arbeit ein Projekt am Ende tatsächlich verlangt. „Es wird aber mit der Erfahrung einfacher, abzuschätzen, welche Entlohnung wofür angemessen ist.“ Außerdem gebe es kaum Vorbilder für den wirtschaftlichen Teil des Autorendaseins, gerade weil jede Situation ihre Besonderheiten hat.
Langweilig, so scheint es, wird Nadia Rungger also nicht so schnell. Dabei sucht sie oft geradezu nach diesem Gefühl der Monotonie. „Man sollte es bewusst zulassen und nicht ständig nach Ablenkung suchen“, sagt die Grödnerin. Als sensibler Mensch, in dem kleine Eindrücke bereits viel auslösen können, ist sie stets bedacht, ihrer Gedankenwelt nicht zu viel an einem Tag zuzumuten. Ausgleich findet sie bei all jenen Tätigkeiten, bei denen sie ihre Hände beschäftigt weiß: dem Putzen, dem Garteln, bei kleinen Basteleien. „Dann kann der Kopf ausruhen.“ Nur dann ist wieder Platz für Neues. Neue Worte. Neue Texte. Neues von Nadia.
Sabina Drescher
sabina@swz.it
DIE SERIE In der Serie „Jung & hungrig“ stellt die SWZ junge Menschen in und aus Südtirol mit den verschiedensten Lebensläufen vor. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie sind jung und hungrig nach Erfolg. Alle bisher erschienenen Artikel aus der Reihe finden Sie auf hier und in der SWZapp.
Dieser Artikel ist in der gedruckten SWZ mit folgendem Titel erschienen: „Neues von Nadia“.