Bozen – „Ich bin im oberen Stock“, sagt Maria Egger am Telefon. Es ist ein Freitagnachmittag im Februar. Die Sonne scheint auf das graue Gebäude in der Bozner Industriezone. Ein Hinweisschild weist auf ein Kasino hin, das sich im Erdgeschoss befindet. Eine Eisentreppe führt an der Fassade nach oben. Dort, an der Tür, wartet schon Maria und bittet hinein. „Ich hatte mal ein Schild, aber der Wind hat’s weggerissen“, sagt sie schulterzuckend. Sie führt durch einen leeren Gang, einmal um die Ecke. Und dann stehen wir schon in ihrem Tattoostudio. Ihrem Reich.
Die Einrichtung ist in einem Mix gehalten aus Schwarz und dunklem Holz. Dazwischen ein paar goldene Farbtupfer: Hier ein goldener Affe, der sich die Augen zuhält, dort ein Spiegel mit goldenem Rahmen. An der Wand hängt ein Kuhschädel samt Hörnern, ebenfalls in Gold. „Das ist mein Logo“, sagt Maria.
Ihre blonden Haare hat sie mit zwei Haarklammern nach hinten eingedreht, zwei Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Sie trägt ein braunes Shirt, bauchfrei. Ihre Unterarme sind mit Tattoos übersäht: zwei Schmetterlinge, ein Auge, eine Maus, eine Blume. „Das letzte Mal, als ich gezählt habe, waren es insgesamt ungefähr 55“, sagt sie.
Hier im Studio in Bozen ist die 23-Jährige nicht nur Maria Egger, sondern auch Mary Poppinks. Das ist ihr Name als Tätowiererin: ein Wortspiel aus Mary Poppins und „ink“, dem englischen Wort für Tinte.
Maria Egger gehört zu den gefragtesten Tätowiererinnen in Südtirol. Momentan ist sie bis Januar 2026 ausgebucht, neue Termine nimmt sie nur sporadisch an. „Books closed“, steht dazu auf ihrem Instagram-Account zu lesen. Manchmal öffnet sie den Buchungskalender. Dann kommen innerhalb weniger Tage mehrere hundert Anfragen herein, und sie schließt die Buchungen wieder. Wenn sie wollte, wäre sie wohl noch das gesamte nächste Jahr ausgebucht.
Üben auf Orangenhaut
Maria Egger hat mittlerweile in den zweiten Raum ihres Studios geführt. Eine Wand ist golden, die andere schwarz. Dort hängen eingerahmt ein paar Skizzen: der Kopf eines Pferdes, ein Vogel mit weit ausgebreiteten Flügeln, ein Schädel. Unter den Zeichnungen steht Marias Name. Sie habe schon während ihrer Oberschulzeit – sie besuchte das Kunstgymnasium in Bozen – angefangen, Tattoos zu zeichnen. Mit ihren Skizzen ging sie ins Tattoostudio und ließ sie sich verewigen. Sie zeigt auf ihren Arm. Dort wickelt sich eine Schlange um eine Rose. „Das war eines der ersten.“
Fotos ihrer Tattoos postet Maria regelmäßig auf ihrem Instagram-Account. Dort folgen ihr mittlerweile mehr als 8.000 Leute.
Im Maturajahr bekam sie von einem befreundeten Tätowierer eine alte Tätowiermaschine geschenkt mitsamt verfallener Tinte und verfallenen Nadeln. Sie begann zu tätowieren: auf Orangenschalen und auf Kunsthaut, in ihrem Jargon „fake skin“ genannt. Wie Kunsthaut aussehe, fragen wir. Maria Egger steht auf und holt mehrere rosa Fetzen aus der Schublade. Das Material sieht aus wie Gummi und fühlt sich auch so an. Drei Hunde hat sie darauf verewigt, daneben viele andere Motive.
Das Stechen auf Kunsthaut sei mit dem auf echter Haut nicht vergleichbar, sagt Maria. Deshalb begann sie bald einmal, auf echter Haut zu tätowieren, jener von Freunden und Bekannten. Dass ihr damals so viele vertrauten, wundert sie heute. „Die Linien waren dicker und auch nicht immer gerade. Alles war ein bisschen ,messy‘“, sagt sie und lacht. Dabei lacht ihr ganzes Gesicht mit.
Mary Poppins wird zu Mary Poppinks
Noch bevor sie die Befähigung zum Tätowieren hatte, eröffnete sie ihren Instagram-Account. Der Name: Mary Poppins, ihr Spitzname, den sie schon seit langer Zeit hatte. Später benannte sie den Account in Poppinks um.
Nach der Matura ging sie für einen zweiwöchigen Tattookurs nach London. Dort lernte sie, wie man eine Tätowiermaschine richtig hält, wie tief gestochen wird. Ein Zertifikat an der Wand ihres Studios bestätigt ihre Teilnahme.
Als sie zurückkam, hatte sie einen Job in einem Bozner Tattoostudio eigentlich schon in der Tasche. Aber er hatte einen Haken: „Ich hätte als Praktikantin anfangen müssen: zuschauen, putzen. Dabei wollte ich einfach nur tätowieren – das hatte ich ja vorher schon oft gemacht.“ Nach einigem Überlegen – und dank der Unterstützung ihres Umfelds, wie sie unterstreicht – fasste sie den Entschluss, sich selbstständig zu machen.
Selbstständig mit 20
Am 1. Februar 2022, am Tag ihres 20. Geburtstages, eröffnete sie das Studio in der Bozner Industriezone. Eine Angst beschäftigte sie in den Wochen zuvor, nämlich die vor einem leeren Auftragskalender. „Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich, wenn ich einen Kunden pro Tag haben würde, auf null ausgehen würde. Das wäre für den Anfang schon gut gewesen.“ Diese Rechnung machte Maria vergebens. Schon am ersten Tag hatte sie genug Termine für den ersten Monat, wie sie erzählt.
Nach und nach wurde der Terminkalender für immer längere Zeiträume voll: für fünf Monate, für acht, für zehn. So lange warten heute ihre Kundinnen und Kunden auf ein Tattoo, oft auch nur ein kleines Motiv oder zwei Buchstaben.
Eine von ihnen ist Maja. Ihr Name steht an diesem Freitagnachmittag in Marias Terminplaner. Fast ein Jahr hat Maja auf den heutigen Termin gewartet. Sie will zwei Ornamente auf ihre Handgelenke stechen lassen, dazu eine kleine Schrift auf ihren Unterarm. „Komm rein“, sagt Maria. Sie öffnet die Zeichnung der Tattoos auf ihrem Tablet und hält sie Maja hin. Genau so habe sie sich die Tattoos vorgestellt, sagt diese. Dass sie so lange auf den Termin gewartet hat, stört sie nicht. Auch weiß sie, dass sie anderswo die Motive in nur wenigen Tagen verewigt bekommen hätte. „Ich finde es einfach toll, dass sich eine so junge Frau selbstständig gemacht hat. Und vor allem mag ich ihren Stil“, sagt Maja.
„Man muss bei dieser Arbeit ständig hoch konzentriert sein. Das wird oft unterschätzt.“ Ein Ausrutscher könne für immer sichtbar sein, ein Fehler bei der Hygiene könne gravierende Folgen haben.
Marias Stil, „fine line“, liegt seit einigen Jahren im Trend. Die Linien ihrer Schmetterlinge, Blumen oder Schriftzüge sind sehr fein, die Ornamente filigran. Die Designs sind oft minimalistisch. Fotos ihrer Tattoos postet Maria regelmäßig auf ihrem Instagram-Account. Dort folgen ihr mittlerweile mehr als 8.000 Leute. Beinahe täglich teilt sie etwas Neues: Mal das Foto eines Tattoos, mal ein Reel, ein Kurzvideo, das sie beim Stechen zeigt, mal Schnappschüsse aus ihrem Alltag als Tätowiererin.
Regelmäßig spricht sie in kurzen Videos direkt zu ihren Followerinnen und Followern. So auch an einem Dienstag. Auf dem Video blickt Maria in die Kamera ihres Smartphones, lacht kurz, dann beginnt sie zu sprechen. „Guten Morgen und happy Dienstag! Wie geht’s euch?“, fragt sie. Dann erzählt sie von ihrem Wochenende und von ihrem bevorstehenden Tag. Auf den Videos wirkt sie locker, ungezwungen, cool. Und so wirkt sie auch beim Treffen mit der SWZ: Wie eine, die sich nicht darum kümmert, was andere von ihr denken. „Ich bin eben, wie ich bin“, sagt sie.
Instagram sei Dank
Ihr Instagram-Account sei für ihren Erfolg wichtig, meint Maria, aber nicht nur. „Ich glaube auch, dass ich eine Art Safe Space geschaffen habe. Viele Kundinnen sind junge Mädchen. Wir reden hier über alles.“
Diese Intimität ist bald einmal auch bei Majas Termin zu spüren. Zunächst plaudern die zwei über die Tattoos, innert kürzester Zeit wechseln die Gesprächsthemen. Während Maria die Vorlagen, die Stencils, an Majas Unterarmen anbringt, spricht diese über ihren Urlaub. Später werden sie über eine gemeinsame Bekannte sprechen, dann über die Erfahrungen, die beide mit der jeweiligen Selbstständigkeit machen.
Wie geht die junge Tätowiererin mit ihrem vollen Kalender um? „Ich sehe das als großes Privileg“, sagt sie. Es sei schön, dass die Leute bereit seien, oft über ein Jahr auf ein kleines Tattoo zu warten.
Zu dieser gehört bei Maria ein voller Terminkalender. Einmal war sie für 13 Monate ausgebucht. Das sei ihr aber zu viel gewesen. Seither öffnet sie die Buchungen stets nur für ein paar Tage, an denen sich die Kundinnen und Kunden bei ihr melden können. Dann gibt’s wieder einen Buchungsstopp. Beim letzten Mal haben sich innerhalb weniger Tage 250 Leute gemeldet, erzählt sie. Übers Wochenende wird sie wieder ihre Buchungen öffnen und Termine für ein paar Monate vergeben. Dann ist wieder genug.
Wie geht die junge Tätowiererin mit ihrem vollen Kalender um? „Ich sehe das als großes Privileg“, sagt sie. Es sei schön, dass die Leute bereit seien, oft über ein Jahr auf ein kleines Tattoo zu warten. Dass sie sich sehr freuen, wenn es endlich so weit sei.
Der volle Auftragskalender hat aber auch seine Schattenseiten: „Ich muss funktionieren“, sagt Maria. Eigentlich sei sie eine Person, die gerne spontan etwas unternehme, die ihr Leben nicht allzu sehr verplane. „Bei der Arbeit kann ich hingegen nicht spontan sein“, sagt sie. Manchmal vermisse sie es, kurzfristig ein paar Wochen mit ihren Freundinnen in den Urlaub zu fahren. „Aber die Zeit wird schon kommen“, sagt Maria. Man spürt: Sie ist eine, die sich nicht beschwert.
Die Arbeitstage von Maria sind von außen betrachtet nicht allzu lang. Sie beginnen gegen acht Uhr, um drei oder halb vier schließt die 23-Jährige das Studio wieder ab. Abends zeichnet sie oft noch die für den nächsten Tag geplanten Tattoos. Nachmittags sei sie zu müde, um länger zu arbeiten. Dann würden die Tattoos nicht mehr sauber. „Man muss bei dieser Arbeit ständig hoch konzentriert sein. Das wird oft unterschätzt.“ Ein Ausrutscher könne für immer sichtbar sein, ein Fehler bei der Hygiene könne gravierende Folgen haben.
„Legen wir los“
Maja, Marias Kundin, steht vor dem Spiegel. Sie dreht ihren Unterarm, beugt ihn, schaut, wie die blauen Linien der Vorlage, des Stencils, wirken. An den blauen Linien wird Maria später mit der Nadel entlangfahren, um das Ornament zu verewigen. Dann folgt das, worauf Maria gewartet hat: ein überzeugtes „Ja, das passt so“. Bevor die Kundschaft nicht zu 100 Prozent überzeugt sei, tätowiere sie nichts, sagt Maria.
Sie nimmt eine Nadel aus der Verpackung, bringt sie an der Maschine an. Dann streift sie schwarze Einweghandschuhe über, rückt Majas Handgelenk auf der Lehne zurecht. Sie nimmt mit der Maschine Tinte auf aus einem kleinen, totenkopfförmigen Behälter. Im Hintergrund läuft Musik. „Legen wir los“, sagt die 23-Jährige. Sie setzt die Nadel an. Ihr Blick ist hochkonzentriert. Eine Zeit lang ist nur noch das gleichmäßige Surren der Tätowiermaschine zu hören. Maja schaut entspannt in ihr Smartphone. Dann wird wieder geratscht.
DIE SERIE In der Serie „Jung & hungrig“ stellt die SWZ junge Menschen in und aus Südtirol mit den verschiedensten Lebensläufen vor. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie sind jung und hungrig nach Erfolg. Alle bisher erschienenen Artikel aus der Reihe finden Sie hier.
Dieser Artikel ist in der gedruckten SWZ mit folgendem Titel erschienen: Die Hautkünstlerin