Bozen – Hätte es jenen Anruf nicht gegeben, wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen. Vielleicht würde Mirco Marchiodi immer noch in New York als Bänker arbeiten. In jenem Frühsommer des Jahres 2002 meldete sich am anderen Ende der Telefonleitung im 6.500 Kilometer entfernten Bozen Alto-Adige-Direktor Giampaolo Visetti: „Mirco, wir haben eine Stelle zu besetzen. Du kriegst den Job, wenn du innerhalb eines Monats hier sein kannst.“ Bocconi-Abgänger Marchiodi arbeitete in Manhattan seit einigen Monaten in der Project-Finance-Abteilung der Großbank San Paolo Imi (heute Banca Intesa). Eine Rückkehr ins beschauliche Bozen stand eigentlich nicht auf der Wunschliste. Die Studienjahre in Mailand und Albany, der Hauptstadt des Bundesstaates New York, hatten Marchiodi nämlich das Stadtleben fern der Heimat schätzen gelehrt.
Von New York zurück nach Bozen
Doch die Erinnerung an den „Ich will Journalist werden“-Berufswunsch aus Kindheitstagen war stärker. Der 24-Jährige packte in New York kurzerhand seine Koffer und heuerte bei jener Zeitung an, für die er schon in der Oberschule freiberuflich – zunächst über Fußballspiele – geschrieben und später wiederholt Sommervertretungen in verschiedenen Ressorts übernommen hatte. Es kam, wie es kommen musste: Seit jenem Sommer ist Marchiodi aus Bozen, in das er nicht zurückwollte, nicht mehr weggegangen.
Die Geschichte ist bezeichnend für Mirco Marchiodi. Dem mittlerweile 47-Jährigen gelingt es, sich in verschiedenen Welten zu Hause zu fühlen, als wäre es das Normalste auf dieser Welt: im großen New York genauso wie im kleinen Bozen. Im Journalismus genauso wie im Interessenverband. Auf dem Fußballplatz, wo er Teamgeist gelernt hat, genauso wie auf dem Rennrad, das in Sachen Ausdauer und Disziplin eine Lebensschule ist. Das mag wie Unentschlossenheit oder gar Zerrissenheit aussehen, steht zugleich aber für Vielseitigkeit – und vor allem für Offenheit.
Marchiodi switcht problemlos zwischen den beiden Landessprachen hin und her und lässt die unerschütterliche Trennlinie zwischen den Sprachgruppen verschwimmen.
Offenheit hat Marchiodi von klein auf gelernt: Er und seine um 14 Monate jüngere Schwester haben eine deutschsprachige Girlanerin als Mutter und einen italienischsprachigen Bozner als Vater. Die Schule hat Marchiodi in deutscher Sprache besucht, das Studium in italienischer. Er switcht problemlos zwischen den beiden Landessprachen hin und her und lässt die unerschütterliche Trennlinie zwischen den Sprachgruppen verschwimmen. „Ich habe sowohl bei Virtus Don Bosco als auch beim Bozner FC Fußball gespielt“, schmunzelt er, wissend, dass das weniger selbstverständlich ist, als es klingt.
Ping Pong zwischen Alto Adige und Unternehmerverband
Diesen Mirco Marchiodi hat der Unternehmerverband Südtirol nun als Nachfolger seines bisherigen Direktors Josef Negri auserkoren (ein Porträt über Negri erschien in der SWZ 41/25, nachzulesen auf SWZonline und in der SWZapp). Der Zufall will es, dass der Direktor schon wieder ein gelernter Journalist ist, denn auch Negri-Vorgänger Udo Perkmann war einer.
Hellblaues Hemd, dunkles Sakko, zurückgekämmte Haare – so tritt er am UVS-Sitz in Bozen aus seinem Büro und bittet in den Besprechungsraum mit dem langgezogenen Tisch. Drahtig ist er, ideal für den Radsport, den er entdeckt hat, als die Spät- und Wochenendschichten beim Alto Adige nicht mehr vereinbar waren mit dem Fußballspielen. Die fast unsichtbare randlose Brille wirkt für Menschen, die Mirco Marchiodi besser kennen, wie ein Statement: Marchiodi ist keiner, der unbedingt auffallen will und sich ins Rampenlicht drängelt. Ob das ein Vorteil oder ein Nachteil in seinem neuen Job ist, wird sich zeigen.
Marchiodi ist keiner, der unbedingt auffallen will und sich ins Rampenlicht drängelt.
Im Unternehmerverband, den er jetzt führen wird, kennt er sich aus. Nach zehn Jahren beim Alto Adige war Marchiodi nämlich 2012 als Verantwortlicher des Studienzentrums und der Kommunikation zum UVS gewechselt. Im Frühjahr 2024 ging er zurück zum Alto Adige, um dort Chefredakteur zu werden – ein Karrieresprung. Jetzt ist er zurück im UVS. Warum dieses Hin und Her?
Der Journalismus hat Marchiodi geprägt
Mirco Marchiodi hat sich in seinem Sessel zurückgelehnt. Vor sich hat er einen weißen Block zurechtgelegt. Mit seinen Fingern hält er einen blauen Kugelschreiber an den zwei Enden. Während er von sich erzählt, senkt er die Augen immer wieder nach unten auf den Tisch, als lägen dort die richtigen Worte.
Mirco Marchiodi strahlt Ruhe aus. Es ist die Ruhe von einem, der sich im Tagesjournalismus an lange Arbeitstage gewöhnt hat, ohne Blick auf die Uhr. Tatsächlich musste er sich 2012, als er zum ersten Mal zum UVS kam, erst einmal daran gewöhnen, am Abend und an den Wochenenden frei zu haben. Und er musste sich an sein Einzelbüro gewöhnen, lacht er.
Der Journalismus hat Mirco Marchiodi geprägt, vor allem auch die Zeit im Wirtschaftsressort des Alto Adige.
Der Journalismus hat Mirco Marchiodi geprägt, vor allem auch die Zeit im Wirtschaftsressort des Alto Adige und die jahrelange nebenberufliche Mitarbeit für die Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“. Eine Zeit lang hat Marchiodi zudem italienische Artikel für die SWZ verfasst. Die Gespräche mit Persönlichkeiten aus der Wirtschaft haben ihn gelehrt, welch bemerkenswerte Unternehmen in Südtirol angesiedelt sind und wie wichtig sie für unsere Gesellschaft sind: für den Wohlstand, für die Finanzierung der Sozialsysteme, vor allem aber für die Perspektiven der jungen Menschen (siehe beistehendes Interview). Marchiodi sagt, er betrachte es „ein bisschen als meine Mission, aufzuzeigen, dass Gesellschaft und Wirtschaft nicht losgelöst voneinander funktionieren, sondern eng verzahnt sind“. Das habe er als Journalist versucht, und nun werde er es als UVS-Direktor tun.
Marchiodi und die Fußballmannschaft der Verlierer
Aber warum hat er den Job als Alto-Adige-Chefredakteur nach nur 15 Monaten wieder aufgegeben? Hat der große Mirco den Traumberuf des kleinen Mirco vergessen? Marchiodi weiß, dass die Rückkehr in den UVS für viele überraschend kam. „Es war keine leichte Entscheidung“, unterstreicht er. Er hätte sich gerne noch ein paar Jahre im „spannenden, arbeitsintensiven und oft auch schwierigen“ Job beim Alto Adige bewiesen, „aber der UVS-Zug ist eben jetzt vorbeigefahren“. Die Langzeitperspektive habe ihn beim UVS stärker überzeugt, meint Marchiodi.
Nun ist er also wieder im UVS. Ein bisschen ist es, als sei er nie weggewesen. Der neue Direktor kennt die Organisation und sie kennt ihn. Hingegen ist eine andere Facette von Mirco Marchiodi weniger bekannt. Er gehört zu den treibenden Kräften im GS Excelsior. Von 2017 bis 2024 stand er diesem ungewöhnlichen Bozner Sportverein sogar als Präsident vor.
GS Excelsior ist aus einem Integrationsprojekt von La Strada – Der Weg hervorgegangen. Das Besondere: In der Fußballmannschaft, die in der dritten Amateurliga aufläuft, sind alle Spieler willkommen und erhalten gleichermaßen Einsatzminuten, egal wie gut oder wie schlecht sie sind. Lange galt sie als „Mannschaft der Verlierer“, und zwar im doppelten Sinne. Mittlerweile ist sie zum Sympathieträger geworden.
Dass GS Excelsior selbst in der untersten Amateurliga meistens verliert, ist zweitrangig. Nicht Siege zählen, sondern Inklusion. Trennlinien werden überwunden, so wie es Mirco Marchiodi gefällt. Und wenngleich der Verein in der Punktetabelle stets weit unten steht, ist er abonniert auf den ersten Platz in der Fairnesswertung. Gelebte Fairness gehört nämlich zum Selbstverständnis von GS Excelsior.
Marchiodi hat den Anspruch an sich, die Gesellschaft ein bisschen mitzugestalten, egal ob als Journalist oder im GS Excelsior oder jetzt eben als UVS-Direktor.
Daraus ist unter Marchiodis Präsidentschaft während Corona das Projekt „WeFairPlay“ entstanden. Es will quer durch alle Sportarten besondere Fairness-Gesten sichtbar machen. Auch ein eigener Preis wurde dafür ins Leben gerufen, unterstützt vom Land. Mitte Oktober fand im Rahmen eines Galaabends zum vierten Mal die Vergabe der Awards statt. Auch Tennisass Jannik Sinner, Radprofi Jonas Vingegaard und Eisschnellläuferin Brittany Bowe wurden schon prämiert.
Je länger man mit Mirco Marchiodi spricht, desto mehr bekommt das scheinbare Durcheinander in seinem Lebenslauf etwas Ordnung. Marchiodi hat den Anspruch an sich, die Gesellschaft ein bisschen mitzugestalten, egal ob als Journalist oder im GS Excelsior oder jetzt eben als UVS-Direktor. Hinter Marchiodi blendet die Nachmittagssonne durchs Fenster in den Besprechungsraum. Der Block vor ihm ist noch immer weiß. Ungewohnt für einen Journalisten.
Interview
„Perspektive für die jungen Menschen“
SWZ: Herr Marchiodi, werden Sie ein Direktor sein, der sich öffentlich exponiert wie Ihr Vorgänger, oder einer, der sich im Hintergrund auf die Führung des Verbandes konzentriert?
Mirco Marchiodi: Das Gesicht des Verbandes ist der Präsident. Er ist Unternehmer – und wir heißen Unternehmerverband und nicht Managerverband. Ich persönlich verspüre nicht den Drang, in der Öffentlichkeit sichtbar zu sein. Wenn es aber vom Präsidenten gewünscht wird, habe ich kein Problem damit, meine Meinung zu äußern.
Interessenverbände werden oft als Lobbys bezeichnet. Sind Sie ein Lobbyist?
Ich habe keine Berührungsängste mit dem Begriff. Wenn es gelingt, das Land weiterzubringen, dann bin ich gerne ein Lobbyist in dem Sinne, dass ich für Überzeugungen einstehe. Im Statut des Unternehmerverbandes ist verankert, dass wir für die gesellschaftliche Entwicklung in Südtirol Verantwortung übernehmen. Der Verband soll sich politisch einmischen, aber unparteiisch sein. Da gibt es Parallelen zur journalistischen Arbeit, aus der ich komme.
Haben Sie sich Ziele gesetzt?
Ein Ziel ist es, offensiver zu zeigen, welch herausragende Unternehmen wir in Südtirol auch und besonders im Industriesektor haben und welche Bedeutung sie für die Gesellschaft haben. Die Unternehmen prägen eine Region.
Finden Sie, dass in Südtirol dieses Bewusstsein mangelhaft vorhanden ist?
Schauen Sie sich das Beispiel Valbruna an. Oder die ewige Standortsuche von Alpitronic. Sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft ist das Bewusstsein nicht ausreichend vorhanden, welchen Wert solche Unternehmen darstellen – für unseren Wohlstand, für die Finanzierung der Sozialsysteme und vor allem als Perspektive für die jungen Menschen auf der Suche nach attraktiven Arbeitsplätzen.
Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?
Erstens bin ich ein Teamplayer, der sich gerne mit den Betroffenen bespricht, bevor er eine Entscheidung trifft. Zweitens wäge ich nach Möglichkeit gründlich ab, anstatt spontan aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Drittens bin ich ein Zahlenmensch, denn Daten sind eine hilfreiche Grundlage für die Entscheidungsfindung. Viertens mag ich transparente Kommunikation, Verlässlichkeit, gegenseitigen Respekt und einen offenen Umgang mit Fehlern – und fordere das auch von der Gegenseite ein.
















