Wien/Terlan/Bozen – Tagelange, wenn nicht wochenlange Aufregung, mehrere Stunden in der Schule schwitzen, während draußen der Sommer wartet, alles abrufen, was man in fünf Jahren gelernt hat. So läuft die Maturaprüfung für die allermeisten Fünftklässler ab. Die Welt von Lena Wild aus Terlan sah anders aus. Die 18-Jährige besuchte regulär die vierte Klasse des Realgymnasiums Bozen, eignete sich im Selbststudium die Inhalte der fünften Klasse an und absolvierte am Ende des Schuljahres die Matura – mit überwältigendem Erfolg. 100 Punkte mit Auszeichnung erreichte sie. Am wenigsten hatte Lena selbst damit gerechnet.
„Mein Ziel war es, durchzukommen, nicht 100 Punkte zu erreichen, und schon gar nicht mit Auszeichnung“, sagt sie. Beinahe wirkt die Aussage wie ein Mantra, denn Lena wiederholt sie im Laufe des Gesprächs mehrere Male. Es ist ihr wichtig, zu betonen, dass sie mehr ist als die Hunderter-Matura. „Meine Eltern sagen immer, es ist nur ein kleiner Teil dessen, was mich ausmacht. Es ist toll, dass alles so geklappt hat, aber es war auch etwas Glück dabei.“
Eigentlich habe sie nur die Oberschule endlich hinter sich bringen wollen, denn während des Unterrichts habe sie sich oft gelangweilt. „Man kann nicht sagen, dass ich total unterfordert war. Ich hatte aber das Gefühl, viel produktiver zu sein, wenn ich zu Hause in meinem Tempo lernen konnte.“
Was genau mit der Matura auf sie zukommen würde, wusste Lena nicht. In der vierten Klasse wird die Abschlussprüfung noch nicht wirklich thematisiert. Dass sich die 60 Punkte, die es zum Bestehen braucht, ausgehen würden, konnte sich Lena allerdings von vornherein zusammenrechnen.
Schon seit ihrem allerersten Schultag musste sich Lena weniger anstrengen als die anderen Kinder. „Am Ende der Grundschule wurde ich gewarnt, dass es in der Mittelschule schwieriger wird. Am Ende der Mittelschule hieß es dann, in der Oberschule musst du dich mehr anstrengen. Für mich wurde es aber immer leichter“, erinnert sich Lena. Ihre Stärke: sich hinsetzen und konzentriert arbeiten können, gepaart mit einer guten Auffassungsgabe. „Fächer, bei denen man einfach auswendig lernen muss wie italienische Literaturgeschichte, muss ich gleich lernen wie jeder andere“, sagt sie. Während sich andere aber oft ablenken lassen, bleibt sie bei der Sache und behält den Lernstoff dazu noch schnell.
Freude hat sie an den meisten Fächern, auch an denen, die sonst nicht besonders populär sind. Latein etwa begeistert sie. „Latein ist wie Sudoku. Es ist zwar eine Sprache, aber man kann alles mathematisch lösen“, schwärmt Lena. Ihre Begeisterung und ihr Talent blieben nicht unbemerkt. Eine Lehrperson überredete sie im Frühjahr 2018, bei der österreichischen Bundesolympiade in alten Sprachen teilzunehmen. Wie bei der Matura trat Lena ohne große Erwartungen an – und konnte auch hier voll punkten. Sie gewann die Kategorie „Kurzlatein“. Ein weiterer Wettbewerb, den Lena für sich entschied, war die österreichische Philosophieolympiade: als erste Südtirolerin überhaupt. Wieder fällt auf, dass sie sich nicht mit dem Erfolg brüsten will. Im Gegenteil, Lena betont erneut, dass sie zwar stolz auf ihre Leistung sei, dass ihr aber andere Sachen wichtiger erscheinen. So findet sie es gut, nicht dem klassischen Klischee der Streberin zu entsprechen. „Ich renne nicht mit dicker Hornbrille durch die Gegend und brüte den ganzen Tag über den Büchern“, schmunzelt sie. Es gibt viele Bereiche neben der Schule, die sie interessieren und in denen sie auch gut ist. Trotz doppeltem Lernaufwand ging Lena weiterhin mehrmals wöchentlich zum Schwimmtraining und in die Musikschule.
Auch in ihrer neuen Wahlheimat Wien ist das Schwimmen ein wichtiger Ausgleich. Gitarre spielt Lena allerdings nur noch in ihrem Zimmer. Sie lebt seit Beginn des Wintersemesters in einer Zweier-WG in einem Studentenheim. Weil ihre Interessen so breit gefächert sind, belegt sie drei Studiengänge parallel: Philosophie, klassische Philologie und technische Physik. „Ich konnte mich einfach nicht entscheiden“, sagt Lena. Egal, welches Fach sie weggelassen hätte, sie hätte es bereut. Die Uni gibt ihr endlich das, was sie in der Oberschule so vermisst hat. Sie kann selbstständig arbeiten, sich alles selbst einteilen. Wo sie das Studium eines Tages hinführt, weiß Lena noch nicht. Das einzige Ziel lautet deshalb vorerst, den Abschluss zu machen.
Fürs Interview kommt Lena in den Weihnachtsferien eigens in die SWZ-Redaktion nach Bozen. Die dunkelblonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, unter der hellen Strickjacke trägt sie ein schwarzes T-Shirt, dazu Perlenohrringe. Zu ihrem erwachsenen Auftreten passt ihr bemerkenswertes Reflektiertsein. „Mein Denkvermögen“, sagt Lena, „ist nicht nur meine große Stärke, sondern zugleich meine große Schwäche. Ich denke immer über alles nach.“ Vor Prüfungen malt sie sich regelmäßig alle möglichen Szenarien aus, die eintreffen könnten. Die meisten davon sind nicht positiv. „Am Ende geht es dann aber doch immer gut“, lacht Lena. Größere Sorge bereiten ihr gewisse gesellschaftliche Tendenzen. Zu viele Menschen würden sich heute zu leicht manipulieren lassen durch falsche Tatsachen und Informationen. Das Internet verstärke das Phänomen. „Die Bereitschaft, einfach irgendwelche Behauptungen zu glauben, ohne sie zu hinterfragen oder zu überprüfen, nimmt ständig zu. Ich würde mir wünschen, dass die Leute wieder mehr nachdenken.“ Sie selbst geht mit gutem Beispiel voran. Es gibt viel Platz für Kopfarbeit in Lenas Welt – aber eben auch für vieles andere.