Brüssel – Die EU will im Wettlauf mit den USA und China verlorenes Terrain gutmachen. Der Schlüssel soll der „Wettbewerbsfähigkeitskompass“ sein, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgestellt hat. Dabei werden zahlreiche Empfehlungen von Mario Draghi aufgegriffen, der als EU-Sonderbeauftragter dringendst grundlegende Reformen angemahnt hatte.
Ziel ist ein Europa, in dem die Technologien und sauberen Produkte von morgen erfunden, hergestellt und vermarktet werden. Die Kommission hat dafür drei zentrale Bereiche identifiziert: Produktivität und Innovation, engere Verknüpfung von Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz, größere Unabhängigkeit von externen Märkten.
Erstens: Produktivität und Innovation
Europa muss seinen Innovationsmotor in Schwung bringen. Das Ziel: ein dynamisches Umfeld für junge, innovative Start-ups schaffen und Europas industrielle Führungsrolle in wachstumsstarken Deep-Tech-Sektoren stärken. Und die Verbreitung zukunftsweisender Technologien in etablierten, kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) fördern. „Mega-KI-Fabriken“ mit Supercomputern sollen entstehen. Die Datenweitergabe und der Zugang zu Kapital sollen erleichtert werden.
Mit dem sogenannten „28. Regime“ für Unternehmen sollen zudem die bestehenden Vorschriften in Bereichen wie Gesellschaftsrecht, Insolvenzrecht, Arbeitsrecht und Steuerrecht vereinfacht und vereinheitlicht werden. Binnenmarkt und Kapitalmarkt sollen vertieft werden, damit europäische Sparer:innen mehr in Europa statt in ausländische Unternehmen investieren.
Bisher ging es vor allem darum, zu verhindern, dass einzelne Konzerne den Markt dominieren. Nun sollen Wettbewerbsregeln gelockert werden, um die Entstehung europäischer Champions zu unterstützen. Diese sollen sich im globalen Wettbewerb behaupten können.
Wir wollen eine „nie gekannte Vereinfachung“ der Regeln durchsetzen. Ursula von der Leyen
Die EU will eine „nie gekannte Vereinfachung“ der Regeln durchsetzen und die Kapitalmärkte stärker zusammenführen, so von der Leyen bei der Vorstellung des „Kompass“. Insgesamt könnten europäische Unternehmen 37 Milliarden Euro durch Bürokratieabbau einsparen. Die Berichtspflichten für Unternehmen sollen künftig deutlich reduziert werden – um 25 Prozent für alle Unternehmen, um 35 Prozent für kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Um erste Erleichterungen umzusetzen, arbeitet die EU-Kommission an der „Omnibus“-Verordnung. Diese soll eine Vereinfachung von drei zentralen EU-Richtlinien bewirken: der EU-Lieferkettenrichtlinie, der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sowie der EU-Taxonomie. Ziel: die bestehenden Regelungen aufeinander abzustimmen und effizienter zu gestalten – ohne dabei das übergeordnete Ziel der Dekarbonisierung zu vernachlässigen.

Zweitens: Dekarbonisierung
Ende Februar wird als erste konkrete Maßnahme der „Clean Industrial Deal“ vorgestellt. Das Hauptziel: die hohen Energiepreise zu senken, die insbesondere die energieintensive Industrie belasten. Dafür plant die EU unter anderem eine stärkere Integration des Binnenmarkts und die Bereitstellung von Garantien, um den Abschluss langfristiger Stromabnahmeverträge zu erleichtern. Für besonders betroffene Industriezweige wie die Stahl- und Chemiebranche ist ein eigener Aktionsplan vorgesehen. Zudem soll das CO2-Grenzausgleichssystem angepasst werden, um energieintensive Betriebe in Europa vor unfairen Wettbewerbsbedingungen zu schützen.
„Im Krankenhaus sagen wir auch nicht zu einem Patienten, wenn du nicht gesund wirst, bekommst du eine Strafe. Wir versuchen zu helfen“. Stefan Pan
Eine besondere Rolle kommt der Autoindustrie zu. Mobilität sei „der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit“. Deshalb hat die Kommission einen „strategischen Dialog“ mit der Branche gestartet. Unter anderem soll über drohende Strafzahlungen geredet werden: Laut EU-Umweltgesetzen muss die Gesamtheit der Neuwagen der einzelnen Autohersteller unter bestimmten CO2-Werten liegen, und diese CO2-Flottengrenzwerte werden mit 2025 verschärft. Confindustria-Vizepräsident Stefan Pan: „Die Automobilindustrie ist mit über 13 Millionen Arbeitsplätzen der größte Arbeitgeber in Europa. Sie befindet sich in einer Krise. Aber in einem Krankenhaus sagen wir doch auch nicht zu einem Patienten, wenn du nicht gesund wirst, bekommst du eine Strafe. Wir versuchen zu helfen. Und genau das müssen wir auch mit der Autoindustrie tun. Die Ziele bleiben klar, aber wie man dahin kommt, muss jetzt technologieoffen neu definiert werden. Bestimmt nicht mit Strafen in Milliardenhöhe. Dieses Damoklesschwert muss weg.“

Drittens: wirtschaftliche Sicherheit
Abhängigkeiten reduzieren, Versorgung sichern, Rüstungsindustrie stärken. Das ist das ausgeschriebene Ziel der Kommission. Laut Stéphane Séjourné umfasse dies drei Hauptpunkte. Erstens: Man wolle Rohstoffe in Europa abbauen und die Gewinnung strategischer Ressourcen auf europäischem Boden wieder aufnehmen. Zweitens: Handelsbeziehungen müssten diversifiziert und Partnerschaften mit Ländern wie Kanada, Mexiko und Lateinamerika gestärkt werden. Drittens: Man arbeite an strategischen Vorräten, um Engpässe zu vermeiden.
Außerdem soll künftig die Beschaffung kritischer Rohstoffe gemeinschaftlich erfolgen. Zu diesem Zweck ist für die zweite Jahreshälfte die Einführung einer Plattform für gemeinsame Einkäufe geplant. Auch die Vergabe öffentlicher Aufträge soll verstärkt zur Förderung der europäischen Industrie genutzt werden. EU-Unternehmen sollen in strategisch wichtigen Branchen bevorzugt werden.
„Der europäische Venture-Capital-Markt ist stark unterentwickelt.“ Stefan Pan
Knackpunkt Finanzierung
Der Draghi-Bericht, an dem sich der „Wettbewerbskompass“ stark orientiert, hat eine zentrale Empfehlung: Europa müsse jährlich 800 Milliarden Euro zusätzlich investieren, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Stefan Pan: „Wie das zu stemmen ist, wird im Kompass nur zum Teil formuliert. Es wird die Notwendigkeit der Banken- und Kapitalmarkt-Union angesprochen, die das in der EU brachliegende private ersparte Kapital aktivieren soll – rund 30.000 Milliarden Euro. Die europäische Sparquote ist höher als die amerikanische, der europäische Venture-Capital-Markt dagegen stark unterentwickelt. Die Umgestaltung und Vereinfachung des EU-Haushalts wird im Kompass angesprochen, die EU-Finanzierung von europäischen Projekten – Stichwort Eurobonds – wird im Kompass nur skizziert, hier gibt es noch Dialogbedarf.“
Interview
„Die Antwort auf dramatische Hilfeschreie“
SWZ: Was bedeutet der neue „Wettbewerbsfähigkeitskompass“ für die EU?

Stefan Pan*: Der Kompass gibt eine strukturierte Antwort auf die dramatischen Hilfeschreie aus der Wirtschaft und auf den Weckruf, den der Draghi-Report, der Letta-Report und der Bericht über die Verteidigung der EU des ehemaligen finnischen Präsidenten Sauli Niinistö ausgelöst haben. Sein Gelingen ist ausschlaggebend für den Erhalt des Wirtschaftsstandortes Europa. Denn die Entwicklung Europas in den letzten 25 Jahren ist dramatisch: Im Jahr 2000 hatten wir in Europa das gleiche BIP pro Kopf wie in den USA. Heute ist es in den USA doppelt so hoch.
Ist der Bericht inhaltlich richtig ausgelegt?
Ja, die Stoßrichtung stimmt. Zentral sind im Kompass drei Fragestellungen: Wie gewinnt Europa seine Innovationsfähigkeit zurück, wie kann Europa Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit zusammenführen und wie unabhängiger und sicherer werden. Ein guter Indikator für Innovation ist, wie viel ein Land in Forschung und Entwicklung investiert. Gemessen am Bruttosozialprodukt, investiert die EU in etwa nur die Hälfte der USA. Das macht einen Unterschied von jährlich 270 Milliarden Euro. Der Kompass führt einige Vorschläge an, um diesen Unterschied wettzumachen. Einer davon ist massiv in künstliche Intelligenz und die dafür notwendigen Gigarechenzentren zu investieren. Europa hinkt bei der KI dramatisch hinterher. Nur eines von sieben Unternehmen nutzt in der EU die KI, das sind 13 Prozent.
„In der EU kostet Energie zwei- bis dreimal so viel wie in Amerika.“
Woher soll die Energie für diese Vorhaben kommen?
Energie ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. In der EU kostet Energie zwei- bis dreimal so viel wie in Amerika. Dafür braucht es eine Neuregelung des Energiemarktes sowie länderübergreifende massive Investitionen in europäische Netze und Speichersysteme. Der exponentielle Anstieg des Strombedarfs durch KI, Cloud-Computing und Rechenzentren ist bereits heute spürbar. Ohne massive Investitionen in Speichertechnologien und leistungsfähige Netzinfrastrukturen wird das nicht zu stemmen sein. Der Ausbau von dekarbonisierter Energie wird auch moderne Reaktorkonzepte erforschen und integrieren müssen, um eine stabile Versorgung sicherzustellen.
Geht der Kompass auf Kosten des Klimas?
Dass wir die Dekarbonisierung brauchen, ist unbestritten. Die entscheidende Frage ist, wie wir sie umsetzen, ohne Millionen von Arbeitsplätzen zu vernichten. Wenn Arbeitsplätze in andere Regionen der Welt verlagert werden, wo unsere hohen Standards nicht eingehalten werden, hilft das dem Klima nämlich auch nicht.
„Ein einheitlicher EU-Binnenmarkt würde ein Wachstum von 2.800 Milliarden Euro generieren.“
Ist der Bürokratieabbau ein Schlüssel zum Erfolg?
Ja. Die bürokratische Überregulierung ist eine der größten Investitionsbremsen in Europa überhaupt. Die Ansage im Kompass, die Richtlinien und Gesetze in dieser Legislatur um 25 Prozent und für die KMUs um 35 Prozent zu reduzieren, ist zukunftsweisend. Die letzte EU-Kommission hat 13.000 Gesetze und Richtlinien erlassen, die Unternehmen zu befolgen haben. In den USA waren es im gleichen Zeitraum 3.000. Das ist innovationshemmend. Wir haben zum Beispiel gleich viele Patentanmeldungen wie China oder die USA, wir bringen aber nur ein Drittel auf den Markt – auch wegen der bürokratischen Hürden. Unser größtes Potenzial liegt in der Möglichkeit, einen einheitlich regulierten Binnenmarkt zu schaffen. Dies allein würde ein Wachstum von 2.800 Milliarden Euro generieren. Dazu müssen wir aber einheitliche Handelsregeln schaffen. Das versucht der Kompass mit dem Vorschlag der sogenannten 28. Regelung. Es gibt 27 Mitgliedsstaaten mit eigenen Regelungen. Nun wird ein fiktiver 28. Staat geschaffen, dessen einfache und einheitliche Regeln alle nutzen können, wenn sie wollen. Das Ziel: Alle nutzen die 28. Regelung. One in, 27 out.
Was hat Unabhängigkeit mit Sicherheit zu tun?
Die EU hat in den letzten zwei Jahrzehnten drei Todsünden begangen. Sie hat ihre Energieversorgung an Russland delegiert, die Technologie an China und ihre Verteidigung den USA überlassen. Das macht uns angreifbar und erpressbar. Wir müssen diese Kernpunkte wieder selbst in die Hand nehmen – und zwar gemeinsam! Die EU investiert 313 Milliarden Euro in die Verteidigung, damit liegt sie weit hinter den USA mit ihren 900 Milliarden, aber noch vor China. Das Problem: Die Mitgliedsstaaten machen viel allein und unkoordiniert, nur 20 Prozent werden gemeinschaftlich eingekauft und produziert.
„Wir befinden uns in einem Wettrennen mit der Zeit.“
Was passiert, wenn der Kompass scheitert?
Die EU hat die höchsten Sozialleistungen weltweit. Um diese auch in Zukunft zu finanzieren, müssen wir wieder wettbewerbsfähig werden und uns auf unsere innovationsfähige Industrie besinnen. Schwache Sozialleistungen haben gravierende soziale Spannungen zur Folge. Die beste Sozialpolitik ist eine gute Wirtschaftspolitik. Wir befinden uns in einem Wettrennen mit der Zeit. Die Legislaturperiode für die Umsetzung des Kompass ist fünf Jahre. Wir müssen aber schneller sein. Ein Schritt, der uns schon mal Luft zum Atmen geben würde: anstehende Monsterpakete nicht genehmigen, zum Beispiel die Klimastrafen für Autobauer.
* Stefan Pan ist Unternehmer und Vizepräsident des italienischen Industriellenverbandes Confindustria mit Zuständigkeit für die Bereiche EU und europäische Beziehungen.