Bozen – Früher war das Elternsein weniger kompliziert, zumindest wenn man den Erzählungen vorangegangener Generationen Glauben schenkt. Vielleicht waren aber auch einfach die Ansprüche andere. War ein Kind müde, wurde es auch mal im Nebenzimmer auf einer Decke am Boden hingelegt, Babyphon gab es keines, das Geschrei des Nachwuchses reichte. Mittlerweile ist das Kinderkriegen für viele zum Projekt geworden, das nicht nur eine emotionale Veränderung mit sich bringt, sondern auch eine finanzielle. Rund ums Neugeborene hat sich eine regelrechte Industrie entwickelt, für deren Produkte Menschen bereit sind, viel Geld in die Hand zu nehmen. Schließlich will man für den eigenen Nachwuchs nur das Beste. Der Markt wird dem nur zu gerne gerecht – mit einem immer breiteren Konsumangebot, das noch vor der eigentlichen Schwangerschaft ansetzt.
Kinderwunsch und Schwangerschaft
Bereits zum Zeitpunkt, ab dem ein Kinderwunsch besteht, beginnt das Geschäft. Es entsteht etwas, das Lotte Rose, Professorin mit Forschungsschwerpunkt auf Elternschafts- und Natalitätsforschung, Qualifizierungsdruck nennt: Voraussetzung für ein reines Gewissen, wenn etwas nicht nach Plan laufen sollte, sind ausreichende Information und entsprechendes Verhalten als (siehe beistehendes Interview). Und das kann vieles sein, angefangen damit, dass keine Schwangerschaft eintritt (die Reproduktionsmedizin ist ein Kapitel für sich).
Halten die werdenden Eltern schließlich den positiven Schwangerschaftstest in ihren Händen, reicht die Produktpalette von medizinischen Zusatzleistungen über Zubehör für Babypartys bis hin zu speziellen Cremes und Ölen. Neu sei das Phänomen nicht, sagt die freiberufliche Hebamme Julia-Luna Cappelletto. Den Personen, die sie begleitet, gibt sie seit Längerem einen guten Rat mit auf den Weg: Das Allermeiste von dem, was angeboten wird, ist überflüssig. In Anspruch genommen wird es meist dennoch, denn „werdende Eltern sind neben Tierbesitzern wohl die lukrativste Zielgruppe überhaupt.“
Ein Grund dafür dürfte die weibliche Hormonumstellung sein, die laut Neurowissenschaftler:innen dazu führt, dass Frauen in der Schwangerschaft eher gewillt sind, sich auf empfohlene Produkte einzulassen. Welche dieser Empfehlungen tatsächlich sinnvoll sind, scheint häufig eindeutig, in manchen Fällen ist die Einschätzung hingegen schwierig, gerade in Bezug auf Vorsorgeuntersuchungen.
Der Wunsch nach Sicherheit
„Es besteht ein sehr großes Bedürfnis nach Sicherheit“, erklärt Cappeletto den Trend, dass Schwangere tendenziell immer häufiger medizinische Zusatzleistungen in Anspruch nehmen. „Es wird der Eindruck von ‚je mehr desto besser‘ vermittelt, aber der ist falsch“, so die Hebamme. Mehr Untersuchungen führen nicht zu weniger Angst, sondern zu weiteren potenzierten Ängsten oder „zu einem defizitären, gleichsam pathologischen Blick auf die Schwangerschaft“, wie es in einer Studie der Bertelsmann Stiftung heißt.
Der Wunsch nach Sicherheit von außen rührt laut Rose unter anderem daher, dass kaum noch jemand in der Großfamilie lebt. Der Kontakt zu kleinen Kindern ist seltener geworden, Vorbilder sind weniger greifbar und es wird versucht, sie zu ersetzen durch immer neue Trends und Helferlein.
Das zeigt sich unter anderem in der größeren Produktpalette. „Das Sortiment hat sich in den vergangenen Jahren stark vergrößert“, bestätigt Barbara Ladurner, Geschäftsführerin der Kinderwelt mit Hauptsitz in Tscherms (vor Kurzem deutlich ausgebaut) und einer Filiale in Percha.
Werdende Eltern können hier zwischen 10.000 Artikeln wählen. Auf dem Markt gibt es eigentlich nichts, das es nicht gibt: Bekleidung, Spielzeug, Kinderwagen, aber auch Besteck, das seine Farbe ändert, wenn das Essen zu heiß ist. Was davon zur sogenannten Erstausstattung gehört, entnehmen Mütter und Väter verschiedenen Listen. Jene des deutschen Fachhändlers BabyOne etwa umfasst 80 Artikel. 2.976 Euro kostet es laut dem Kölner Institut für Handelsforschung, den Sprössling schon vor der Geburt mit Wiege, Wickelbodys und Wärmelampe auszustaffieren.
Funktionieren müssen, notfalls mit Hilfsmitteln
Die Gefahr: Ist das Baby erstmal da, werden Eltern dazu verleitet, Vertrauen durch Technik zu ersetzen – Sensoren, Kameras und Apps. „Alles muss im Normbereich laufen, ich muss sicherstellen, dass mein Kind sich entsprechend entwickelt“, erklärt Lotte Rose.
Dazu kommt der Druck, als Eltern funktionieren zu müssen, zur Not eben mit Hilfsmitteln. „Der Anspruch, den vor allem Mütter an sich stellen, ist enorm hoch“, sagt Julia-Luna Cappelletto. „Sie versuchen, alles unter einen Hut zu bringen und dabei ja nicht nach außen zu zeigen, was das alles von ihnen abverlangt.“
Klar ist: Allein muss niemand durch diese Zeit, dafür ist der Mensch gar nicht gemacht. Über Jahrtausende herrschte bei der Kinderversorgung ein kooperatives Modell. Darauf sollten wir uns wieder öfter besinnen.
Interview
Die Kommerzialisierung der Geburt
SWZ: Frau Rose, in Ihrer Forschung sprechen Sie von einer Kommerzialisierung der Geburt. Woran lässt sich diese festmachen?
Lotte Rose*: Es reicht nicht, schwanger zu sein, ein Kind zu bekommen, Eltern zu werden. Es gibt ein unglaublich starkes Bedürfnis diesen Statuswechsel durch den Erwerb von speziellen Waren oder durch festliche Rituale zu markieren. Diese Markierung von biografischen Positionen betrifft aber nicht nur das Elternwerden, sondern zieht sich durch unseren gesamten Lebenslauf. Der Markt bietet je nach Situation eine enorme Produktpalette. Da steckt kaum Rationalität dahinter, aber viel Symbolik.
So wie Schwangerschaftskleidung …
Die ist noch ein pragmatisches Beispiel, der Körper verändert sich ja effektiv. Daneben wird viel Fragwürdiges angeboten: Cremes, Öle, Tees. Bücher, Vorbereitungskurse und weiteres Ratgebermaterial sind ebenfalls kommerzielle Produkte. Früher haben Frauen, die bereits gebärt hatten, die nachfolgenden informiert. Das waren private narrative Transmissionsriemen, die aktiviert wurden. Auch der Vorsorgebereich ist hochgradig kommerzialisiert: Zusatzuntersuchungen sind selbst zu finanzieren. Die Schattenseite besteht in der Responsibilisierung der werdenden Eltern (Zuschreibung von Verantwortung, Anm. d. Red.). Wer sich dem Druck entzieht, da mitzumachen, muss sich – sollte etwas schiefgehen – die Vorwürfe anhören. Hättest du mal … Dieser Qualifizierungsdruck umfasst verschiedenste Bereiche. Denken wir an die Wahl des Geburtsorts.
Was ist damit?
Früher ging man zur Hebamme vor Ort, ins Krankenhaus, das am nächsten war. Heute entscheiden oft andere Kriterien. Auch hier gilt: Wer sich vorab nicht schlau macht, ist am Ende selbst schuld, wenn etwas nicht passt.
Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Der Nährboden war und ist die Individualisierung unserer neoliberalen Gesellschaft, in der wir alle danach streben, perfekte Bürger zu sein und möglichst wenig Kosten zu verursachen. Aus dieser Situation wieder Druck rauszunehmen, ist schwierig. Eine Gesellschaft, die stärker am Gemeinwohl orientiert wäre, die sagen würde, dass auch etwas schiefgehen kann und dann unterstützt statt rügt, wäre hilfreich. Die Entwicklung geht aber in eine andere Richtung. Es wird immer noch mehr in den Verantwortungsbereich der Individuen verlagert. Dazu kommt, dass die Kinder immer weniger werden. Die Geburt des eigenen, vielleicht einzigen Babys ist für Paare als biografisches Ereignis somit viel exponierter als zu einer Zeit, zu der klar war, es kommen noch zwei, drei, vier Kinder. Heute ist das Kinderkriegen auch viel eher mit Selbsterfüllung verbunden. Ich habe abgewogen, ob, wann usw. Das lädt das Ereignis nochmal anders auf. Man kann es dann nicht mehr einfach so geschehen lassen, nachdem man bereits so viel investiert hat.
Sitzt das Geld entsprechend lockerer?
Ja, ein bisschen so wie im Urlaub. Das ist auch eine besondere Zeit, in der wir großzügiger sind. Wir zahlen Preise, bei denen wir uns normalerweise wegdrehen würden. Der Urlaub muss schön sein, er ist wenig, er ist erkauft durch lange Arbeitszeiten. So ist das beim Kinderkriegen auch, oft Kontrastraum zum Arbeitsraum, eine Zeit, die toll werden muss. Die Aufladung mit Glückserwartungen ist riesig geworden, das öffnet das Portemonnaie.
Und die Gefahr, enttäuscht zu werden …
Das auch. Es gibt dafür auch keinen An- und Ausschaltknopf. Das Umfeld beeinflusst uns zusätzlich. Es handelt sich eben um keinen Denkfehler des Individuums, sondern eine gesamtgesellschaftliche Atmosphäre, in der sich so etwas entwickelt.
Viele Angebote zielen auf eine möglichst selbstbestimmte Geburt. Ein nobler Ansatz?
Die Idee des wohligen Gebärens ist das Antriebsmoment, durch welches die Individuen überhaupt erst bereit sind, sich all den genannten Qualifizierungserfordernissen zu unterwerfen. An sich sind damit ja Zeit, Energie und Kosten verbunden, aber das damit verbundene Versprechen, dass am Ende alles gut wird, holt die Menschen ab.
* Lotte Rose ist Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Elternschafts- und Natalitätsforschung, Kindheits- und Jugendforschung sowie Genderforschung.