Wolkenstein – Es sei immer noch nicht ganz weg, sagt Giulia Wörgartner, das Streben nach der Perfektion. Das sei etwas, das sie nach wie vor begleite. Dabei bringe es eigentlich nichts, sagt sie. Über die Jahre habe sie gelernt, dass es oft wichtiger sei, einen Moment festzuhalten, anstatt auf das perfekte Bild zu warten.
Das gilt auch für diesen Septembertag. Giulia Wörgartner möchte Fotos vom letzten Licht des Tages schießen. Dafür bleibt ihr nur noch wenig Zeit. Die Lärchen auf der Almwiese werfen schon lange Schatten, ein paar letzte Sonnenstrahlen erwärmen den Rücken der Seceda im Hintergrund. Die Luft ist kühl. Die Juac-Hütte, eine Schutzhütte oberhalb von Wolkenstein in Gröden, liegt schon im Dunkeln. Davor läuft Giulia Wörgartner mit ihrer Kamera herum. Sie ist auf der Suche nach der besten Perspektive. „In letzter Zeit liebe ich Hütten als Fotomotiv“, sagt sie. Sie geht ein paar Schritte auf die Hütte zu, dann geht sie weiter nach links, etwas nach rechts. Ihr Motiv sieht sie durch den Sucher der Kamera. Mit dem Blick auf die Hütte gerichtet, kehrt sie an ihre ursprüngliche Position zurück. Ein einziger „Klick“ und das Foto ist im Kasten.
Giulia Wörgartner, 26, ist Fotografin und Filmemacherin. Sie hat langes, braunes Haar und braune Augen, die sich immer hinter ihren Lidern verstecken. Diesen Blick kennen viele von ihren Fotos auf Instagram. Dort heißt die 26-Jährige aber nicht Wörgartner, sondern Gartner. Das ist ihr Künstlername. Gartner, sagt Giulia, funktioniere auch auf Englisch.
373.000 Menschen folgen ihr auf Instagram, so viele wie niemandem anderen in Südtirol. Durch ihre Kameralinse nimmt Giulia Wörgartner ihre Follower mit um die Welt. Zu einem Eisberg in Island, einem einsamen Leuchtturm vor der Küste Schottlands, einer Palme in Sri Lanka. Sie lebt auf Instagram ein Leben, von dem viele träumen. Ihre Geschichte ist eine über den Erfolg, zu dem soziale Netzwerke verhelfen können – und über den Druck, den sie ausüben.
Leidenschaft für die Fotografie
Giulia Wörgartner zieht sich den Kragen ihres Mantels bis an die Ohrläppchen hoch. Der Schatten, den die Juac-Hütte wirft, ist jetzt, eine Viertelstunde später, schon länger. Die Gipfel rund um die Hütte leuchten noch einmal rot, bevor die Sonne ganz untergeht. Es wird langsam frisch.
Zum Fotografieren hat Giulia Wörgartner heute nur wenig Equipment dabei: eine analoge Canon und ihr Handy. Als ein paar Wanderer an der Hütte vor ihr vorbeispazieren, hält sie die Kamera vor ihr Auge. Klick. Die Kamera und das Objektiv suche sie stets zu Hause aus und versuche dann damit, das bestmögliche Bild aufzunehmen. „Früher habe ich immer viel Equipment mitgenommen“, sagt sie.
Irgendwann sei ihr diese „perfekt kuratierte Identität“, die sie damals geschaffen hatte, zu viel geworden. Sie habe gespürt, dass sie die einst so herbeigesehnten Reisen nicht mehr genießen, die Eindrücke nicht mehr verarbeiten konnte.
Giulia Wörgartner fotografiert, seit sie 14 ist. Zunächst schoss sie Fotos mit der Kamera ihrer Eltern, dann bekam sie von ihrer Mutter eine eigene geschenkt: eine Canon 60D, eine klassische Anfänger-Spiegelreflexkamera. Damit ging Giulia in Gröden, wo sie aufgewachsen ist, auf Motiv-Suche. Sie fotografierte Almwiesen, Pässe und die Dolomiten. „Ich habe so die Natur zu schätzen gelernt“, sagt Wörgartner.
Zeugnisse ihrer frühen Foto-Touren sind noch auf ihrem Instagram-Account zu finden. Diesen legte sie ebenfalls in jenen Jahren an. Zunächst lud sie ein paar Selfies und Schnappschüsse hoch, dann immer professionellere Fotos. Je mehr sie veröffentlichte, desto mehr wurden auch ihre Follower, sagt Giulia Wörgartner. Je mehr Follower sie bekam, desto mehr wurde die junge Wörgartner zur Influencerin Gartner.
Ein dünner Filter aus Sprühnebel
Das, was sie auf ihren Bildern, vorwiegend Landschaftsfotos, zeigt, wirkt echt. Nicht romantisiert oder übermäßig bearbeitet. Der Himmel ist selten strahlend blau, meist ist er grau oder es zieht irgendwo Nebel auf. Ein Foto, das sie in Island aufgenommen hat, zeigt zum Beispiel einen hohen Wasserfall, dessen Wasser einen dunklen Schlund hinabstürzt. Unten spritzt die Gischt auf. Der Himmel ist grau. Alles wirkt, als wäre es von einem dünnen Filter aus Sprühnebel überzogen.
In diesen ersten Jahren taucht in Giulias Instagram-Feed jenes Kleidungsstück auf, das lange ihr Markenzeichen sein sollte: eine gelbe Regenjacke.
Immer wieder ist diese auf ihren Fotos zu sehen. Sie trägt sie am Ufer eines Sees in Neuseeland, auf einer Schaukel in Norwegen, vor einem Gipfel in den Dolomiten. „Anfangs habe ich das gar nicht bewusst gemacht. Das Gelb passte einfach in jede Landschaft, egal ob der Hintergrund grün oder blau war.“ Aus Giulia Wörgartner wurde so „the girl with the yellow jacket“, das Mädchen mit der gelben Jacke.
Ihr Dasein als Instagrammerin und Fotografin nahm die Grödnerin lange mehr als Hobby denn als möglichen Beruf wahr. Das habe sich erst während eines „Gap Year“, eines Auslandsjahrs, in Neuseeland geändert. Dort habe sie ihre ersten Aufträge als Fotografin bekommen und gemerkt, dass sie von diesem Job leben könne, wie sie sagt.
Auf Instagram postete sie jetzt täglich Fotos, erntete Zehntausende Likes und Hunderte Kommentare. „Richtig schönes Bild“, steht da zu lesen, oder „fantastic light“.
Für ihre Bilder – mit zunehmender Reichweite habe sie immer mehr Aufträge bekommen – reiste sie um die Welt. Ihre Auftraggeber waren Marken wie Jeep, Canon oder Latam Airlines, genauso wie Tourismusagenturen. Giulia schoss Fotos, nahm Videos auf und teilte sie auf ihrem Account.
Sie trank Tee mit Nomaden in der mongolischen Wüste, paddelte im Kanu durch die Fjorde der Lofoten und sah den Dünen Namibias beim Wandern zu. Daheim in Gröden war sie nur selten.
Mehrere Stunden investierte Giulia Wörgartner in diesen Jahren täglich in ihr Instagram-Dasein. Anstatt mit Freunden auszugehen, sei sie früh aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu fotografieren. Mit jedem Bild, das sie hochlud, wurde die Südtirolerin Wörgartner ein bisschen mehr zur Weltbürgerin Gartner, die ein perfektes Leben zu haben schien. Zumindest sah es im Internet so aus.
Das perfekte Bild
Irgendwann sei ihr diese „perfekt kuratierte Identität“, die sie damals geschaffen hatte, zu viel geworden. Sie habe gespürt, dass sie die einst so herbeigesehnten Reisen nicht mehr genießen, die Eindrücke nicht mehr verarbeiten konnte. Nur noch für die Fotos rausgegangen sei.
Ein Moment der Einsicht sei auf den nächsten gefolgt, ein Herzensprojekt, ihre gelbe Jacke in Serienproduktion zu verkaufen, habe nicht geklappt. Dann kam die Pandemie und damit viel Zeit zu Hause und zum Nachdenken. Giulia Wörgartner begann, sich selbst, ihre Arbeit und ihre Instagram-Identität zu hinterfragen. „Ich war damals nicht sicher, ob den Kunden meine Fotos gefallen, oder ob sie an meiner Reichweite interessiert sind.“ Noch etwas habe sie in diesen Jahren belastet: die ständige Suche nach der Perfektion. „Meine Erwartung an mich selbst war: Jedes nächste Foto muss das beste sein, das ich bis dahin aufgenommen habe.“
Eine Identitätskrise war die Folge. „Das war wie ein Burn-out“, sagt Giulia Wörgartner. Allerdings sei es nicht ein einzelner verändernder Moment gewesen, sondern viele kleine. Sie habe viel nachgedacht in dieser Zeit. Bis sie zur Erkenntnis kam: Sie muss zurückschrauben. Um mindestens 50 Prozent. Sie wollte weg vom Dasein als Influencerin, hin zu jenem als Fotografin und Künstlerin. Die gelbe Regenjacke sah fortan keine exotischen Landschaften mehr. Gartner verstaute sie, und damit ihr Markenzeichen, in ihrem Kleiderschrank. Das Mädchen mit der gelben Jacke gab es nicht mehr.
Heute sieht sich Giulia Wörgartner weniger als Influencerin, sondern eher als Fotografin und Filmemacherin. „Ich möchte, dass die Leute mich für meine Fotos kennen, meine Videos und Filme – und nicht wegen der gelben Jacke und meiner Bekanntheit.“
Als Fotografin und Filmemacherin ist sie erfolgreich. In den vergangenen Jahren gewann sie mehrere Preise und wurde öfter für Awards nominiert.
„Ich möchte selbst entscheiden, was mir gefällt und was nicht.“
Eine Bar in St. Ulrich, ein paar Wochen nach dem Fotoshooting vor der Juac-Hütte. Draußen regnet es. Giulia Wörgartner sitzt in einem hellen Sessel und trinkt einen Cappuccino. Zuvor hat sie schon einige Videos für einen Kunden bearbeitet, ein Südtiroler Hotel. In der Hand hält die 26-Jährige ihr iPhone und scrollt durch ihren Instagram-Feed. Die Fotos hätten sich über die Jahre verändert, sagt sie. Sie streicht mit ihrem Daumen weiter nach unten, zurück in die Vergangenheit.
Wie die 26-Jährige spricht, wirkt es, als habe sie in den vergangenen Jahren viel nachgedacht, über sich selbst, ihre Träume und ihren Weg. Sie wirkt wie eine, die erwachsen geworden ist.
Früher empfand Giulia Wörgartner ein Foto erst dann als wirklich schön und gelungen, wenn es viele Likes erhielt. Heute sieht sie die Anzahl der Likes gar nicht mehr. Diese Funktion hat sie auf Instagram deaktiviert. „Ich möchte selbst entscheiden, was mir gefällt und was nicht.“ Ihre Fotos wirken realistischer, gefühlvoll, schön – aber nicht perfekt, zumindest nicht alle. Sie bemühe sich, nicht ständig nach dem Optimum zu streben. Immer gelinge ihr das nicht, sagt Wörgartner.
Es gibt viele Beispiele für Influencerinnen, die am Druck der sozialen Netzwerke beinahe zerbrochen wären. Etwa Sophia Thiel, die mit ihren Fitnessvideos zuerst Millionen Fans erreichte und sich dann, auch aufgrund einer Essstörung, aus den sozialen Netzwerken zurückzog. Oder Bianca Heinicke („BibisBeautyPalace“), der das Leben als Influencerin zu viel wurde und die von einem Tag auf den anderen aus den sozialen Medien verschwand. Im Netz liest man von Creator-Burn-out, einer neuen Art von Burn-out.
Wörgartner ist nicht verschwunden, sie ist noch da. Nur die gelbe Jacke, ihr Markenzeichen, hat sie abgelegt.
Eine, die erwachsen geworden ist
Instagram sieht Giulia Wörgartner heute kritischer. Ein gesunder Umgang mit sozialen Netzwerken sei wichtig. Trotzdem sagt sie: „Ohne Instagram wäre ich nicht dort, wo ich heute bin.“ Sie verbringe inzwischen weniger Zeit auf der Plattform. „Instagram ist für mich heute ein Weg, um zu kommunizieren und in Kontakt zu bleiben. Und es ist ein Teil dessen, was ich mache.“ Die Plattform nehme aber nicht länger ihre Gedanken ein, Likes würden nicht mehr ihre Stimmung beeinflussen. Sie fühle sich freier.
Wie die 26-Jährige spricht, wirkt es, als habe sie in den vergangenen Jahren viel nachgedacht, über sich selbst, ihre Träume und ihren Weg. Sie wirkt wie eine, die erwachsen geworden ist.
Seit einiger Zeit fotografiert Giulia Wörgartner in ihrer Freizeit nur noch mit analogen Kameras. 36 Fotos haben auf einer Filmrolle Platz. „Das schränkt mich ein, weil ich nicht mehr unendlich viele Fotos machen kann.“ Aber genau das, und zu wissen, dass die Bilder nicht mehr nachbearbeitet werden können, gebe ihr das Gefühl, frei zu sein, sagt sie. Jedes Foto, das sie mache, sei genau richtig, wie es ist.
Das strahlt sie auch bei ihrem Fototermin bei Sonnenuntergang aus. Sie macht ein Foto von der Juac-Hütte. Dann ein zweites vom Sella-Stock im Abendrot. Und ein drittes vom letzten Sonnenlicht, wie es durch die Nadelbäume auf den Wanderweg fällt. „Das war’s“, sagt sie. Dann packt sie ihre Kamera weg und spaziert zurück zum Auto. Ihre gelbe Jacke hängt daheim in ihrem Kleiderschrank.
Dieser Artikel ist in der gedruckten SWZ mit folgendem Titel erschienen: Die Frau mit der gelben Jacke