Bozen – Big Quit, Great Resignation oder auch Great Attrition: Die Bezeichnungen dafür sind unterschiedlich, meinen aber alle dasselbe Phänomen: Angestellte, in vielen Fällen mit unbefristetem Vertrag, lösen freiwillig ihr Arbeitsverhältnis auf. Eigentlich keine Neuheit und – in der Regel – kein größeres Problem für den Arbeitsmarkt. Zum Problem wird es erst, wenn das Ganze in Massen stattfindet. Und das ist in den USA der Fall. 48 Millionen US-Amerikaner:innen verließen im vergangenen Jahr laut CNBC ihre Arbeitgeber, der Trend scheint nicht enden zu wollen.
Italien blieb bis Ende des vergangenen Jahres vom Big Quit weitgehend verschont. Im Januar vermeldete dann die Associazione italiana direzione personale (AIDP) einen „Boom“ an freiwilligen Kündigungen. Daraufhin hörte sich die SWZ hierzulande bei mehreren Personalexpert:innen um, ob auch Südtirol von der Great Resignation betroffen sei. Von allen Seiten war die Antwort dieselbe: Nein, in Südtirol gebe es keine Auffälligkeiten bei den Kündigungszahlen.
Mittlerweile sieht die Situation hingegen anders aus. Die Kündigungswelle aus den USA ist endgültig nach Südtirol übergeschwappt.
Mehr als 10.900 Kündigungen
10.911 Arbeitnehmer:innen in Südtirol (Stand: 20. September) haben seit Anfang dieses Jahres ihren Job – allesamt unbefristete Arbeitsverträge – freiwillig gekündigt. Das besagen die Daten des Arbeitsmarktservices des Landes. In den vorangegangenen Jahren waren die Kündigungszahlen zu diesem Zeitpunkt des Jahres deutlich niedriger. 2018 etwa lag die Anzahl der Kündigungen Mitte September bei 8.390, 2019 bei 9.050 (siehe Grafik).
„Die Wertvorstellungen der Arbeitnehmer haben sich im Zuge der Pandemie geändert: Heute stellt sich jeder und jede früher oder später die Sinnfrage bei der eigenen Arbeit.“
Im Pandemiejahr 2020 lag sie bei 7.320 und 2021 bei 8.960. Im Vergleich zu 2019, dem letzten pandemiefreien Jahr, haben die Kündigungen von Januar bis Ende August dieses Jahres um 30,8 Prozent zugenommen. „Diese Zahlen zeigen eindeutig: Der Trend zur vermehrten Auflösung von unbefristeten Arbeitsverträgen hat auch Südtirol erreicht“, bestätigt Stefan Luther, der Direktor des Arbeitsmarktservices.
Wer den Job kündigt
Die Daten geben Auskunft über die Branchen, aus denen die Kündigungen gemeldet werden, sowie über einige Merkmale der Arbeitnehmer:innen. „Den stärksten Zuwachs an Kündigungen hat der Bereich ,Gesundheit und Soziales‘ erfahren“, so Luther. Dies sei mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Kündigungen infolge der Impfpflicht zurückzuführen.
Doch auch die anderen Branchen bleiben vom Big Quit nicht verschont: Im Einzelhandel haben die Kündigungen von Januar bis August im Vergleich zum selben Jahreszeitraum 2019 um 38 Prozent zugenommen, in der Beherbergung und der Gastronomie um 37,6 bzw. 25,6 Prozent, im Großhandel sogar um 45,8 Prozent. Am wenigsten von diesem Trend betroffen sind das verarbeitende Gewerbe sowie das Bauwesen, doch mit einem Plus von 23 und 21,1 Prozent liegen die Kündigungen dort ebenfalls um einiges höher als im Vergleichsjahr 2019.
Aber wer sind die Arbeitnehmer:innen, die kündigen? „Der Trend ist bei beiden Geschlechtern und allen Altersklassen zu beobachten. Dennoch verdichten sich die Kündigungen bei Frauen und bei Personen über 50 Jahren“, erklärt Luther. Warum gerade diese kündigen, sei nicht eindeutig zu erklären.
Die Sinnfrage
Umfragen in den USA und im restlichen Italien haben aber ergeben, dass die Gründe für die vermehrten Kündigungen vielfältig sind: Sie reichen vom Gefühl, im Unternehmen „nur eine Nummer gewesen zu sein“ über Konflikte mit Arbeitskolleg:innen und Unzufriedenheit mit dem Gehalt bis hin zum Wunsch nach mehr Selbsterfüllung oder mehr Möglichkeiten für persönliches Wachstum. Ob diese auch auf die Kündigungen in Südtirol zutreffen, sei schwer zu sagen, sagt Luther, zumal es zu den Kündigungsgründen der Südtiroler Arbeitnehmern:innen noch keine repräsentativen Studien gibt.
„Nicht nur die Werte, auch die Prioritäten vieler Bewerber haben sich geändert, sei es im Privatleben oder hinsichtlich beruflicher Ziele.“
Die Personalexpert:innen Barbara Jäger und Hermann Troger erklären die vielen Kündigungen vor dem Hintergrund zweier langfristiger Entwicklungen, die derzeit auf den Arbeitsmarkt einwirken: Erstens, eine Werteverschiebung, auf die Corona wie ein Katalysator gewirkt hat. „Die Wertvorstellungen der Arbeitnehmer haben sich im Zuge der Pandemie geändert: Heute stellt sich jeder und jede öfter und schneller die Sinnfrage bei der eigenen Arbeit“, analysiert Hermann Troger.
„Niedrigere Hemmschwelle“
Die Frage nach dem Sinn der eigenen Tätigkeiten habe vor allem Eingang in die Arbeitswelt gefunden, als die Generation Z den Arbeitsmarkt betreten habe, längst würden sich aber auch die anderen Generationen damit beschäftigen. „Nicht nur die Werte, auch die Prioritäten vieler Bewerber haben sich geändert, sei es im Privatleben oder hinsichtlich beruflicher Ziele“, fügt Barbara Jäger hinzu, Gründerin und Gesellschafterin von Business Pool.
„Vor der Pandemie standen beispielsweise Weiterentwicklungsmöglichkeiten und räumliche Nähe auf der Wunschliste der Bewerber:innen ganz oben, heute ist es eindeutig die Flexibilität – in zeitlicher und räumlicher Hinsicht.“
Als zweites Phänomen, das Mitarbeitende dazu bewegt, ihren Arbeitsplatz aufzugeben, nennen Troger und Jäger ein neues Selbstbewusstsein, das Arbeitende erlangt haben. „Die demografische Entwicklung führt dazu, dass Unternehmen nicht genügend Arbeitskräfte finden. Seit einigen Jahren findet deshalb eine Machtverschiebung statt: Der Arbeitnehmer sucht sich den Arbeitgeber aus und nicht umgekehrt“, weiß Troger. Gleichzeitig sei den meisten Arbeitnehmer:innen bewusst, dass sie problemlos eine neue Anstellung finden, falls sie die alte kündigen, so Jäger, „deshalb ist die Hemmschwelle, zu kündigen, heute um einiges niedriger.“
Der perfekte Sturm
Dass dies aber nur die halbe Wahrheit ist, zeigt ein Blick in die Daten des Arbeitsmarktservice: Wer den Job kündigt, sucht sich in gar einigen Fällen keine neue Arbeit oder nimmt lange Auszeiten. Mehr als 40 Prozent derjenigen, die ihren Job freiwillig kündigen, haben nach sechs Monaten immer noch keine neue Beschäftigung. In vielen Fällen nehmen sie sich eine Auszeit, weiß Luther, dem diese Entwicklung Bauchschmerzen bereitet, denn: „Die Frage, die wir noch nicht beantworten können, ist: Wann kommen die Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlassen, auf den Arbeitsmarkt zurück?“
Die Demografie führt zu einer zunehmenden Anzahl an Pensionierungen und wenig nachrückenden Arbeitskräften, gleichzeitig leiden viele Branchen jetzt schon unter einem extremen Fach- und Arbeitskräftemangel. „Die Kündigungen sind auf diesem angespannten Arbeitsmarkt das Tüpfchen auf dem i“, sagt Luther.
Die Grenzen der Arbeitgeber:innen
Was heißt das alles für Unternehmen? Die Great Resignation zeigt Arbeitgebern ihre Grenzen auf, sagt Troger. „Bisher waren sie in der besseren Verhandlungsposition und konnten die Bedingungen weitgehend diktieren.“ Nun aber müssten sie stärker auf die Interessen und Wünsche der Mitarbeitenden eingehen und diese möglicherweise immer wieder neu aushandeln.
In einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe sieht Jäger ebenfalls den Schlüssel zu einer erfolgreichen Mitarbeiterführung – und diese sei die Grundvoraussetzung, um Mitarbeiter:innen an ein Unternehmen zu binden. „Employer Branding, wie es momentan von vielen Unternehmen betrieben wird, wirkt sich sicher positiv auf die Bindung eines Menschen an einen Betrieb aus. Worauf es aber wirklich ankommt, ist Vertrauen“, meint Jäger.
Vertrauen heiße im Berufsalltag, verbindliche Aussagen und Entscheidungen zu treffen, kurze Entscheidungswege zu wählen, Möglichkeiten zum Mitgestalten zu bieten und den Mitarbeitenden Wege für die persönliche Weiterentwicklung zu eröffnen.
„Arbeitnehmer suchen Unternehmen, in denen sie nicht nur eine Nummer sind. Die kleinstrukturierten Familienunternehmen hierzulande haben deshalb schon gute Startvoraussetzungen“, führt Jäger aus. Diese gelte es zu nutzen. Gleichzeitig unterstreicht sie: „Ein Mitarbeiter, der kündigt, bedeutet keinen Weltuntergang. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass jemand ein Leben lang für ein und dasselbe Unternehmen arbeitet.“