St. Ulrich – Am Handgelenk trägt Igor Comploi keine Uhr, sondern ein schlichtes schwarzes Haargummi. Mit ihm zähmt er beim Kochen seine mittlerweile grau melierten Locken – ansonsten dürfen sie meist ungestört in alle Richtungen springen. Ein bisschen wie seine Locken ist auch Igor Comploi selbst. Vielschichtig. Ein Freigeist, der die Kunst, die Natur, das Kochen und natürlich die Architektur liebt. Denn das ist sein eigentlicher Beruf. Igor Comploi ist Architekt in St. Ulrich im Grödnertal. Viele seiner Projekte sind Einfamilienhäuser, die sich in die Berglandschaft Südtirols einfügen, als wären sie schon immer Teil von ihr gewesen. Ist ein Haus fertig, kocht der Architekt für die Eigentümer. Mit denen ihn, nach einer Bauzeit von durchschnittlich drei bis fünf Jahren, schon ein fast freundschaftliches Verhältnis verbindet. „Es ist ein schöner Abschluss einer gemeinsamen Reise“, so Comploi. „Familie und enge Freunde werden zur Hauseinweihung einladen und ich koche ein Menü.“ Je größer der Tisch, desto höher die Gästezahl. „Aber maximal zwölf, lieber zehn“, lacht Comploi. Gott sei Dank helfe seine Frau oft beim Schnippeln.
„Für mich ist die Küche der wichtigste Raum eines Hauses oder einer Wohnung, das Herzstück.“ Igor Comploi
„Für mich ist die Küche der wichtigste Raum eines Hauses oder einer Wohnung, das Herzstück“, sagt der dreifache Vater. „Sie ist ein Ort der Begegnung, des Zusammenseins. Deswegen versuche ich auch immer, Küche und Wohnen räumlich zu verbinden.“ Wenn die Küche nicht den richtigen Stellenwert in einem Projekt bekomme, leide er richtig mit. „Gerade habe ich eine Wohnung saniert. Die ist riesig und der Bauherr wollte die Küche in die hinterste, kleinste Ecke verbannen. Das kann ich beim besten Willen nicht verstehen“, sagt Comploi und streicht sich eine verirrte Locke aus dem Gesicht.
Liebe zum Kochen von der Mutter geerbt
Die Liebe zum Kochen bekam Igor Comploi in die Wiege gelegt. „Meine Mutter war eine leidenschaftliche Köchin. Sie hat immer besondere Sachen gekocht. Wie paniertes Hirn, das sie dann mit einem solchen Genuss gegessen hat, dass ich es einfach auch probieren musste, obwohl ich eigentlich gar nicht wollte. Leider habe ich sie viel zu früh verloren.“ Als Igor Complois Mutter starb, nahm er ihren Platz in der Familienküche ein. „Von meiner Mutter habe ich auch die Liebe zu kulinarischen Experimenten geerbt. Ich mische gerne Sachen, die auf den ersten Blick nicht wirklich zusammenpassen. Wie Kartoffelauflauf, bei dem einige Schichten durch Birnenscheiben ersetzt werden. Das sieht man optisch nicht und dann kommt die Geschmacksüberraschung.“
Nachhaltigkeit beim Essen und Bauen
Bei seinen Gerichten, wie bei seinen Projekten, hat für Igor Comploi Nachhaltigkeit einen besonderen Stellenwert. „Ich koche nur mit frischen und am besten lokalen Produkten. Dosenfutter gibt es bei mir nicht.“ Selten Fleisch, und nur, wenn es vom Bauern nebenan komme. Am liebsten Fisch, aber nur von ausgewählten Fischhändlern oder aus einem Bergsee. Bei seinen Häusern sollen Material und Farben für sich selbst sprechen. „Ich mag es nicht, Dinge anzupinseln. Wir versuchen, ausschließlich mit natürlichen Materialien zu arbeiten, auch bei der Dämmung.“ Drei Häuser hat das Architekturbüro ‚Mahlknecht und Comploi‘, das Igor Comploi vor 21 Jahren mit seinem Freund und Kollegen Thomas Mahlknecht gründete, schon ganz ohne Heizung gebaut. Eines steht sogar auf 1.300 Metern Höhe und hat nur einen Holzofen. Warmwasser kommt von einer Photovoltaikanlage. „Das geht schon“, sagt der Architekt. „Man muss sich halt im Winter einen Pulli anziehen oder sich unter eine dickere Decke kuscheln.“
In Complois St. Ulricher Büro herrscht kreatives Chaos. Auf dem Schreibtisch liegt neben einem Modell noch das Cuttermesser, auf dem Boden und in den wandlangen Holzregalen stapeln sich Bücher – und Kunst, seine vielleicht sogar größte Leidenschaft. Zwei Bilder fallen besonders ins Auge, sie gehören zusammen. Beide sind nahezu vollständig in Weiß gehalten und zeigen aus der Vogelperspektive eine tief verschneite Hütte sowie eine Gruppe von Lärchen, die im winterlichen Tiefschnee stehen. Sie sind von Gustav Willeit und sollen einmal die Natur an sich und einmal den Menschen in der Natur zeigen.
„Meine absolute Lieblingskünstlerin ist Berlinde De Bruyckere. Wenn ich nur an ihre Werke denke, bekomme ich eine Gänsehaut.“ Igor Comploi
„Meine absolute Lieblingskünstlerin seit nunmehr fast 15 Jahren ist aber Berlinde De Bruyckere. Wenn ich nur an ihre Werke denke, bekomme ich eine Gänsehaut“, erzählt Comploi und streicht sich über den Unterarm. „Ich bin seit Jahren in ein Bild von ihr verliebt, ein ganz kleines. Aber es kostet 30.000 Euro, also habe ich es mir nicht gekauft.“ Eigentlich ist die Belgierin für ihre Skulpturen bekannt. Bei der Kunstbiennale 2024 bespielte sie mit ihren gesichtslosen Wesen die Basilika San Giorgio Maggiore in Venedig. Ein zentrales Anliegen in De Bruyckeres Schaffen ist die Darstellung der Verletzlichkeit von Mensch und Natur. Sie thematisiert das menschliche Bedürfnis nach Schutz, Wärme, Liebe und Verständnis, stellt jedoch zugleich die oft harte Realität in den Fokus, die von Aggression, Gewalt, Schmerz und Angst geprägt ist.
„Ich fahre an einem Tag mit dem Zug nach Rom, hin und zurück, nur um mir eine Ausstellung anzusehen.“ Igor Comploi
Während seines Studiums der Architektur in Innsbruck arbeitete Igor Comploi sechs Jahre im Büro des Architekten Siegfried Delueg in Sterzing. „Wir waren eine junge Truppe und haben viele Wettbewerbe gewonnen, die es dann natürlich auch umzusetzen galt. Schließlich musste ich mir dann drei Monate Auszeit für meine Diplomarbeit nehmen, sonst wäre es irgendwann peinlich geworden“, so Comploi. Erste Berührungen mit der Kunstszene machte Igor Comploi, als er nach seinem Studium ein Büro in der Galerie von Doris Ghetta in St. Ulrich anmietete. Schnell wurde klar: Der junge Architekt hat auch ein Auge für Kunst. Comploi: „Ich habe von Ausstellungsgestaltung über Installationen bis hin zum Bau von aufwendigen Modellen für Kunstausstellungen alles übernommen.“ Bis heute spielt die Kunst im Leben von Igor Comploi eine große Rolle. „Ich fahre an einem Tag mit dem Zug nach Rom, hin und zurück, nur um mir eine Ausstellung anzusehen.“
Künstler mit an Bord holen
Auch in seiner Arbeit als Architekt darf die Kunst nicht fehlen. „Wir versuchen so oft es geht, Künstler mit ins Boot zu holen und die Kunst ins Haus zu integrieren.“ Skulpturen werden in die Fassade integriert oder Kunst in die Böden eingelassen. Aktuell saniert Igor Comploi das Bed and Breakfast „Eisenhut“ in der Bozner Bindergasse. „Hier arbeiten wir mit einer jungen Künstlerin zusammen: Elisa Capellari, die für uns viele Innenhöfe fotografiert, die dann im Hotel ausgestellt werden, das selbst vier Lichthöfe besitzt.“ Ein Projekt, das Zeit braucht. Es gibt in Bozen viele versteckte Innenhöfe, viele von ihnen auch im privaten Besitz. Da muss ich erst an der Tür klopfen oder anrufen, um einen Termin auszumachen“, sagt die junge Künstlerin mit brasilianischen Wurzeln.
Kunst und Architektur sind schon immer eng verbunden, da Architektur nicht nur funktionalen, sondern auch ästhetischen Ansprüchen folgt. Schon in der Antike wurden Gebäude mit Skulpturen und Malereien verziert, während in der Renaissance und im Barock Kunst und Baukunst verschmolzen. Im 20. und 21. Jahrhundert entwickelten sich architektonische Stilrichtungen wie die Bauhausbewegung oder der Dekonstruktivismus, die künstlerische Prinzipien in die Architektur integrierten.
Im Nebenjob Therapeut
Als Leidenschaft die Kunst, als Hobby Klettern und Yoga und als Beruf die Architektur – „und als Nebenjob Therapeut“, fügt Igor Comploi schmunzelnd hinzu. „Ein Bau dauert über mehrere Jahre, da kann das Verhältnis zwischen Architekt und Auftraggeber schon mal intensiver werden. Bei einem Hausbau kommen viele private Dinge wie Gewohnheiten, Streitfragen und Generationskonflikte auf den Tisch.“ Und schwierige Dinge würden gerne beim Architekten geklärt, da es zu Hause zum Konflikt komme – beim Architekten natürlich auch. Nur kann der dann als Mediator fungieren. „Manchmal komme ich abends nach Hause und sage zu meiner Frau, eigentlich müsste ich auch noch ein Therapeutenstudium nebenbei machen.“
Ein Schema lasse sich beim Bau eines Privathauses meistens erkennen. „Die Männer kommen zum ersten Termin meist allein. Klären, was sie genau haben wollen, mit welchen Materialien, wie teuer es werden darf und wann es fertig sein soll. Später habe ich dann vorwiegend mit den Frauen zu tun. Die Männer haben weniger Geduld für Details.“
„Mein Vater ist Bauingenieur und Architekt und war nicht immer in allen Dingen meiner Meinung.“ Igor Comploi
Hat der Architekt sein eigenes Haus gebaut? „Nein“, sagt Comploi. „Ich wohne mit meiner Frau und meinen Kindern im Elternhaus meines Vaters, das wir aber nach unseren Vorstellungen umgebaut haben.“ Und auch damals gab es einen Generationskonflikt: „Mein Vater ist Bauingenieur und Architekt und war nicht in allen Dingen meiner Meinung. Aber gerade neulich saß er bei uns und sagte: gut, dass du dich damals durchgesetzt hast. Das hat mich gefreut.“
Eine Prise Experimentierfreude
In seiner großen Wohnküche kocht Igor Comploi gerne für sich und seine Familie – immer mit frischen Zutaten und einer Prise Experimentierfreude. Die Liebe zum Kochen hat er an seine drei Kinder weitergegeben, die Liebe zur Architektur bis jetzt nicht. „Meine große Tochter will vielleicht Kriminologie in Rotterdam studieren, die mittlere macht gerade die Kunstschule und mein Jüngster wird vielleicht mal Pianist“, lacht Comploi.