Bozen – In etwas mehr als einer Woche ist es so weit, am 1. März, um genau zu sein. Ab diesem Tag kann man in Luxemburg einfach in die öffentlichen Verkehrsmittel einsteigen und losfahren. Bahn, Bus, Tram – alles gratis. Ausgenommen sind Zugfahrten in der ersten Klasse. Davon profitieren nicht nur die Einheimischen, sondern auch die täglich rund 200.000 Grenzpendler aus Deutschland, Frankreich und Belgien. Luxemburg wird laut Angaben der Regierung das erste Land der Welt mit komplett kostenlosem öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV). Der zweitkleinste EU-Mitgliedsstaat erstreckt sich über eine Fläche von 2.600 Quadratkilometern, was in etwa einem Drittel der Fläche Südtirols entspricht. Potenzielle Nutzer des ÖPNV gibt es indes etwas mehr, denn in Luxemburg leben rund 600.000 Menschen, während es in Südtirol rund 530.000 sind.
Dass das Luxemburger Modell auch hierzulande gut umsetzbar wäre, davon zeigten sich mehrere Politiker überzeugt, unter anderem der Unterlandler SVP-Bezirksobmann Oswald Schiefer. Gegenüber der Tageszeitung sagte er Anfang Jänner dieses Jahres: „Die Gratisnutzung des öffentlichen Personennahverkehrs ist eine super Sache.“ Eine Aussage, die Schiefer zufolge nicht allen recht war. Das Thema sei noch immer nicht offiziell in der Parteileitung besprochen worden, obwohl es bereits Ansätze in Richtung kostenlose Dienste gegeben habe, und zwar unter Thomas Widmann als Mobilitätslandesrat. Damals durften Senioren Bus und Bahn im Land gratis nutzen. Schiefer sagt, er erhoffe sich, dass mehr Leute das Auto stehen lassen, wenn sie nichts mehr für die Öffis zahlen müssen, und dass so Gutes getan wird für Klima- und Umweltschutz.
In Luxemburg hat man hingegen andere Ziele vor Augen.
Gratis Öffis: Andere Maßnahmen sind effektiver
Verkehrsminister François Bausch bezeichnet das Projekt als „soziale Maßnahme“. Er erwarte nicht, dass wegen der Kostenfreiheit viele Autofahrer auf den öffentlichen Verkehr umsteigen werden. Damit spricht Bausch einen essenziellen Punkt an. ÖPNV wird häufig mit positiven Auswirkungen auf die Umwelt verbunden – siehe Schiefer. Doch diese sind wissenschaftlich umstritten.
Bereits im Mai 2018 simulierten Soziologen der Technischen Universität Dortmund die Wirkung von kostenlosem Nahverkehr. Ihr Fazit: Andere Maßnahmen hätten einen besseren Effekt auf die Umwelt. Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Johannes Weyer, Professor für Techniksoziologie an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, hatte Experimente mit dem Simulator SimCo (Simulation of the Governance of Complex Systems) gemacht. „Der Simulator unterstützt die Untersuchung der Steuerung komplexer Infrastruktursysteme und bietet so auch die Option, Zukunftsszenarien durchzuspielen“, heißt es auf der Website der TU Dortmund. Konkret betrachteten die Forscher*innen, wie sich die Einführung eines kostenlosen ÖPNV auf Gesellschaft, Emissionen und Straßenauslastung auswirkt. Überraschenderweise verbesserte sich die Luftqualität nicht, ebenso wenig konnte der gesellschaftliche Nutzen gesteigert werden. Kostenloser ÖPNV „stellt somit faktisch eine Verschwendung von Ressourcen dar“, zitiert die TU Dortmund Projektleiter Fabian Adelt und Versuchsleiter Marlon Philipp.
Um dem Klimawandel entgegenzuwirken, seien andere Maßnahmen effektiver, folgerten die Wissenschaftler*innen, zum Beispiel die Erhöhung der Kraftstoffpreise oder die vermehrte Einführung von Tempolimits.
Was Vorreiter wie Tallinn gelernt haben
Nicht nur das Forschungsteam aus Dortmund kam zum Ergebnis, dass eher die Kosten für die Autonutzung erhöht werden müssten, um positive Effekte zu generieren. Verschiedene Städte in Europa versuchten es mit dem kostenlosen Nahverkehr, u.a. Tallinn in Estland oder Hasselt in Belgien, und teilen die Auffassung rückblickend.
In Tallinn, Estlands Hauptstadt mit rund einer halben Million Einwohner, wollte man mit der Einführung 2013 den Autoverkehr reduzieren, Bus und Bahn beliebter machen und – am wichtigsten – die Mobilität von sozial schwachen Menschen verbessern. Letztgenanntes Ziel konnte gleich umgesetzt werden. Vor allem Personen mit geringem Einkommen nutzten vermehrt die Dienste des ÖPNV. Deren Beliebtheit nahm zu, wenn auch langsam. Nach zwei Jahren stand ein Plus von 14 Prozent bei den Fahrgästen zu Buche. Allerdings: Allerdings waren es hauptsächlich Radfahrer, Fußgänger und Menschen, die ohnehin schon mit dem Bus oder Zug gefahren waren. Nur ein kleiner Anteil kam von Autofahrern. Zum einen liegt das daran, dass die Dienste bereits vorher für Teile der Bevölkerung kostenlos oder sehr billig waren, etwa für Rentner*innen, Schüler*innen und Studierende. Zum anderen ist das Autofahren im Vergleich weiterhin zu günstig, und die Öffis sind nicht gut genug, erklärt der Verkehrswissenschaftler Oded Cats von der TU Delft (Niederlande) gegenüber der Wochenzeitschrift „Die Zeit“.
In Südtirol ist noch keine Rede davon, den Individualverkehr zu verteuern. Die internationalen Studien, welche belegen, dass ein kostenloser Personennahverkehr zuallererst Fußgänger und Radfahrer dazu animiert, auf Busse umzusteigen, nicht hingegen Autofahrer, seien bekannt, sagt Mobilitätslandesrat Daniel Alfreider. „Unser primäres Ziel ist jedoch, den individuellen Personenverkehr auf der Straße zu verringern. Deshalb gilt es, in die Qualität des ÖPNV und die einfache Nutzung der Dienstleistung in den kommenden Jahren noch massiv zu investieren. Mit der absehbaren Umsetzung des Landesmobilitätsplans und der Digitalisierung des Ticketings wird beides forciert: ein noch besseres Netz des öffentlichen Personentransports sowie eine einfachere Nutzung desselben.“
Gratis Öffis in Südtirol: Wer soll’s bezahlen?
Die Gesamtkosten für den ÖPNV in Südtirol lagen 2018 bei 167,59 Millionen Euro (eine Aufschlüsselung nach Positionen finden Sie in beistehender Infografik). Nicht mit eingerechnet sind die Investitionen in neue Busse, Züge, Elektrifizierung usw. Diesen Ausgaben gegenüber stehen Tarifeinnahmen von 45 Millionen Euro. Laut EU-Vorgaben sollte eigentlich ein Drittel der Kosten damit gedeckt werden. Würde nun der gesamte Dienst kostenlos angeboten werden, müssten besagte 45 Millionen im Landeshaushalt an anderer Stelle eingespart werden. „Wenn man sich nur auf eine Leistung konzentriert, verliert man schnell den Blick für das große Ganze“, sagt Landeshauptmann Arno Kompatscher.
Geht man davon aus, dass die Dienste weiterhin ausgebaut werden, würden die Ausgaben weiter steigen. Einem Luxemburger Modell für Südtirol erteilt Alfreider nicht nur deshalb eine Absage: „Wir wollen Qualität zu einem fairen Preis. Südtirol zählt bereits heute zu den günstigsten Ländern in Europa, was die Tarife im ÖPNV betrifft. Kombiniert mit einem bereits guten Angebot, steht unser Nahverkehr gut da. Weitere Investitionen können wir uns nur leisten, wenn es auch Einnahmen durch den Ticketverkauf gibt. Anderenfalls bräuchte es eine nicht unbeträchtliche Verschiebung von Ressourcen im Landeshaushalt. Eine vollkommen kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist demnach nicht die richtige Strategie, Menschen vom Auto zum Umstieg zu bewegen. Zusätzlich ist es unser Ziel, Städte und Dörfer fußgängerfreundlich und attraktiver für Radfahrer zu gestalten.“