SWZ: Herr Ladurner, während Europa mit sich selbst beschäftigt ist, wird es zwischen den Großmächten USA und China aufgerieben und verliert politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?
Ulrich Ladurner: Ja und nein. Europa verliert an Einfluss, das stimmt. Aber mittlerweile existiert ein Bewusstsein dafür, dass sich Europa wehren und einig bleiben muss, etwa mit Initiativen, die den Einfluss von China in geordnete Bahnen lenkt.
Können sie ein Beispiel nennen?
Ein Beispiel ist das Gesetz zum „Foreign Investment Screening“, das innerhalb eines Jahres – und somit relativ schnell für EU-Verhältnisse – von allen EU-Institutionen abgesegnet wurde. Es schreibt die Kriterien fest, welche Unternehmen erfüllen müssen, die in Europa investieren, und es erschwert etwa staatlich hochsubventionierten chinesischen Unternehmen, auf dem Alten Kontinent zu investieren.
So viel zum wirtschaftlichen Aspekt. Was ist mit dem politischen Einfluss Europas auf der Weltbühne?
Die Europäische Union ist kein Nationalstaat wie China und die Vereinigten Staaten von Amerika. Insofern kann sich Europa auf gewissen Ebenen gar nicht messen mit China und den USA. Ich halte aber nichts von diesem Europa-Bashing, wonach Europa schwach ist und den anderen Mächten auf der Weltbühne hinterherhechelt. Und ich halte nichts von diesem Dekadenzgerede, wonach Europa das Spiel ohnehin verlieren wird. Sicher, Europa verliert an Einfluss und wird weiter an Einfluss verlieren, weil sich das weltwirtschaftliche Geschehen in Richtung Pazifik verlagert und auch weil Europa demographisch verhältnismäßig kleiner wird.
Noch ist die EU der stärkste Wirtschaftsraum der Welt mit zirka 30 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes. Haben Sie Hoffnung, dass Europa diese Führungsrolle, mit der Wohlstand verbunden ist, retten kann?
Europa hat mit diesen 30 Prozent des Weltbruttosozialproduktes noch Gestaltungsmacht, das heißt, es kann die Regeln der wirtschaftlichen Zusammenarbeit maßgeblich mitbestimmen. Deswegen ist es wichtig, dass die Europäische Union ihr ganzes Gewicht in die aktuelle Auseinandersetzung mit China und den USA hineinlegt. Die nächsten Jahre sind wichtig für die EU.
Sie halten also nichts von der Einschätzung einiger Beobachter, wonach ausgerechnet der in Europa kritisch beäugte US-Präsident Donald Trump zum Retter der freien Welt werden könnte, weil er als Einziger dem krakenartig wachsenden Überwachungsstaat China die Stirn bietet?
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, dass Donald Trump alles falsch macht. Zum Beispiel hat er damit recht, dass die Regeln des Welthandels geändert gehören, weil China kein Entwicklungsland mehr ist, sondern zu einer Weltmacht herangewachsen ist. Ich war vor Kurzem in Washington, und in Amerika besteht unter Demokraten und Republikanern parteiübergreifend Konsens darüber, dass es in Fragen wie Diebstahl geistigen Eigentums, Produktpiraterie oder unlautere Konkurrenz durch staatlich subventionierte Unternehmen eine harte Linie gegenüber China braucht. Aber als Retter der freien Welt würde ich Trump dann doch nicht glorifizieren. Trump hat mit autoritären Strukturen kein Problem, er ist kein ausgesprochener Verteidiger der bürgerlichen Freiheit.
Täuscht es, oder sind die geopolitischen Gleichgewichte dieser Welt derzeit so fragil wie lange nicht mehr?
Das sind sie. Der Kalte Krieg ist seit bald 30 Jahren Geschichte. Danach gab es eine Phase des sogenannten unipolaren Moments, wo die USA die Hypermacht waren, weil Russland zersplittert und China noch nicht so weit war. Die USA haben in Afghanistan und im Irak diese ihre Rolle verbrannt – und jetzt leben wir in einer Welt auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht. Es wird viel geredet von einer multipolaren Welt und von Multilateralismus. Aber es fehlt noch das Regelwerk, nach dem mehrere Machtzentren in ein relativ friedliches Zusammenspiel gebracht werden können.
Wo sehen Sie in dieser Übergangsphase die größten Gefahrenherde?
Lassen Sie uns nicht von Gefahren sprechen, sondern von Herausforderungen. Der Klimawandel und seine Folgen sind die zentrale Herausforderung, weil er unsere Lebensweise infrage stellt und somit tief in unseren Alltag eingreift. Ich bin ein Gegner von Untergangsszenarien, aber der Klimawandel ist unleugbar da. Er verändert die Natur und die Gesellschaft, siehe Migrationsbewegungen. Dazu kommen der religiöse Extremismus sowie der Zerfall staatlicher Strukturen, etwa in Syrien, in Afghanistan, im Irak, in Libyen.
Kommen wir noch zu den Europawahlen im Mai. Es ist anzunehmen, dass die nationalpopulistischen Kräfte stärker werden, aber nicht so stark, dass sie eine Mehrheit im Europaparlament stellen werden. Wird sich Europa verändern?
Natürlich wird sich Europa verändern, aber das ist nicht unbedingt schlecht. Es ist ein Fehler, die aktuelle politische Landschaft in Europäer und Antieuropäer einzuteilen. Es gibt auch politische Kräfte, die einfach ein anderes Europa wollen. Ich gehe davon aus, dass die Nationalisten nicht so stark werden wie gemeinhin angenommen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob sie danach überhaupt einen gemeinsamen Nenner finden. Kooperation ist nicht so die Sache der Nationalisten. Ihnen fehlt die übergreifende Idee, denn der Nationalismus macht an den Staatsgrenzen halt. Sollten sich diese Kräfte tatsächlich einigen, dann können sie mit 30 Prozent im Europaparlament schon so einiges mitbestimmen, zum Beispiel die Auswahl der EU-Kommissare.
Gehen Sie davon aus, dass die nationalistischen „Wir zuerst“-Tendenzen nur ein vorübergehendes Phänomen sind? Oder schlägt das Pendel der Globalisierung ernsthaft zurück?
Die Globalisierung inklusive offener Grenzen für Menschen sowie Waren und inklusive einer enormen Beschleunigung hat viele Menschen nicht nur überfordert, sondern regelrecht an den Rand gedrängt. Das haben die Nationalisten erkannt und die Leute für sich gewonnen. Vielleicht ist die Globalisierung zu weit und zu schnell gegangen. Deswegen ist jetzt der Moment, auf die Bremse zu steigen und zu überlegen, ob gut ist, was wir da machen mit der Liberalisierung der Märkte und der Öffnung der Grenzen, oder ob wir ein neues Gleichgewicht zwischen Globalisierung und Regionalismus finden müssen. Zentral ist jedenfalls, dass die Menschen in einer Demokratie das Gefühl haben müssen, dass ihre Stimme zählt. Dieses Gefühl ist in den vergangenen Jahren abhandengekommen. Da muss ein Grundvertrauen wiederhergestellt werde.