Bozen/Meran – Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, mit denen man vorsichtig umgehen muss, weil sie ideologisch missbraucht oder damit gar rassische Unterschiede konstruiert werden können, wo es sich doch lediglich um verschiedene Verhaltensweisen aufgrund unterschiedlicher kultureller Wurzeln handelt.
Um zu verstehen, um was es hier geht, müssen wir in die Jahre 1968 bis 1974 zurückblicken. Damals hat der österreichisch-stämmige US-Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel als junger Professor an der Stanford University in Kalifornien ein Experiment zum Belohnungsaufschub mit vier- und fünfjährigen Kindern durchgeführt, das später in anderen Ländern wiederholt wurde. Die Kleinen wurden – verkürzt dargestellt – vor die Wahl gestellt, sofort ein Marshmallow, das ist eine amerikanische Schaumzuckerware, zu bekommen, oder alleine in einem Raum zu warten, bis ihr Betreuer zurückkommt, dann würden sie zwei Marshmallows erhalten. Wer nicht so lange ausharren wollte, konnte läuten und erhielt dann nur eine Süßigkeit. Die durchschnittliche Wartezeit betrug wenige Minuten, wobei manche Kinder schon nach einer Minute läuteten, während andere bis zur „freiwilligen“ Rückkehr des Versuchsleiters ausharrten, die nach 15 Minuten erfolgte. Aber nicht so sehr dieses Ergebnis der Versuche, die als Marshmallow-Test bekannt wurden, ist interessant, sondern es sind die Erkenntnisse aus den Nachstudien mit den getesteten Personen, die zuerst zu Beginn der 1980er-Jahre gemacht wurden und bis 2014 andauerten. Es hat sich nämlich gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten eines Kindes bei diesem Test und seinem weiteren Erfolg im Leben gibt. Die „Ausharrer“ hatten im Schnitt auffallend bessere Schulnoten, höhere Ausbildungsabschlüsse, bessere Jobs und sogar stabilere Beziehungen. Sie waren selbstbewusster und konnten besser mit Frust und Stress umgehen sowie Versuchungen widerstehen, das heißt, sie waren seltener von Nikotin oder Alkohol abhängig und auch seltener übergewichtig. Mischel hat seine Erkenntnisse im Buch „Der Marshmallow-Test: Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit“ (Siedler Verlag, München 2015) zusammengefasst und verweist immer wieder darauf, dass natürlich auch Kinder, die den Versuchungen schneller erliegen, ihr Leben mit Bravour und Erfolg meistern, und andere, die sich nicht verführen ließen, beruflich und privat scheitern können. Nur: Die Tendenz ist eindeutig.
Am 7. November hat die Tageszeitung „Il Sole – 24 Ore“ in ihrer Beilage „Plus24“ einen unscheinbaren Artikel in einer Randspalte mit dem Titel „Il carpe diem e le scuole di Merano“ veröffentlicht, der das Zeug hat, in Südtirol eine Debatte auszulösen. Darin wird nämlich berichtet, dass der Marshmallow-Test an allen Meraner Grundschulen durchgeführt worden ist, um in einer gewissermaßen neutralen Umgebung herauszufinden, ob es einen Unterschied zwischen deutsch- und italienischsprachigen Kindern in deren Bereitschaft gibt, auf kurzfristige Vorteile zu verzichten, um mittel- und langfristig Vorteile zu erzielen. Und siehe da: Die Kinder, die die Schulen mit deutscher Unterrichtssprache besuchen, sind sehr viel stärker bereit, auf ein attraktives Spielzeug zu verzichten, um später mehr davon zu bekommen, als die Kinder an italienischen Volksschulen. Die Italiener leben stärker nach der Devise „Carpe diem“, was „genieße den Tag“ (und sorge dich nicht um morgen) heißt. Dies ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass man in einem Staat, auf den traditionell wenig Verlass ist, nach dem Grundsatz agiert, dass einem das, was man genossen hat, niemand mehr nehmen kann. Die Deutschen dagegen tendieren mehr zur vorsorgenden Ameise. Das bedeutet: Die deutschen Kinder haben eindeutig bessere auch berufliche Chancen, weil sie den längerfristigen Erfolg suchen, nicht den kurzfristigen.
Dabei scheinen beide Seiten die jeweils andere Volksgruppe ein wenig zu beneiden: Die Deutschen möchten oft sorglos genießen können wie die Italiener, die Italiener planen können wie die Deutschen.