Bozen – „Die produktive Tätigkeit in Europa ist in Gefahr, und damit verbunden Millionen von Arbeitsplätzen und ein wesentlicher Teil des Steueraufkommens“, sagte im Frühherbst Unternehmerverbandspräsident Heiner Oberrauch angesichts der damals explodierten Strom- und Gaspreise. Er rechnete damit, dass sich die Situation im Laufe von Herbst und Winter noch weiter zuspitzen werde und Unternehmen ihre Produktion einschränken.
Auch die anderen Südtiroler Wirtschaftsverbände zeichneten damals ein dramatisches Lagebild. Der Handels- und Dienstleistungsverband hds erklärte, dass Südtiroler Betrieben das Aus drohe.
Forschungsinstitute und Notenbanken prognostizierten im Frühherbst, dass im Winter eine – wenn auch leichte – Rezession eintreten wird.
Gekommen ist alles anders. Die Energiepreise sind kein großes Thema mehr. Von einer Energiekrise ist erst recht keine Rede mehr. Auch die Rezessionsängste scheinen sich weitgehend gelegt zu haben. Hat die (Südtiroler) Wirtschaft die Kurve gekratzt?
Doch keine Rezession
„Die Entwicklung im vergangenen halben Jahr ist positiver, als alle erwartet hatten. Die meisten Experten rechneten für spätestens März mit einer durchaus ernsten Rezession. Allerdings haben die Institute ihre Prognosen laufend angehoben“, sagt Gottfried Tappeiner, Wirtschaftsprofessor an der Universität Innsbruck. Seiner Einschätzung nach ist eine Rezession aktuell nicht mehr in Sicht.
Gleichzeitig gibt Tappeiner zu bedenken: „Das Konjunkturklima hat sich zwar deutlich verbessert, allerdings sind die Indikatoren noch nicht ganz auf dem Vorkrisenniveau.“
Als essenziell bezeichnet der Professor die Erkenntnis, dass Europa notfalls vollständig ohne russisches Gas auskommt und somit Versorgungssicherheit in der Wirtschaft herrscht. Die gesunkenen Gas- und Ölpreise hätten ebenso einen positiven Effekt auf die wirtschaftliche Entwicklung.
Auch das mit Corona eingetretene Problem der Lieferengpässe in verschiedenen Bereichen entspanne sich wieder, so Tappeiner – mit Ausnahme der Pharmazeutika.
Die überraschende Konsumfreude
Durchaus überraschend ist auch die Konsumlaune. Äußerten etwa die Touristiker:innen im Herbst angesichts der gestiegenen Preise und Rezessionsängste noch Sorgen vor einer durchwachsenen Wintersaison, so lief sie letztendlich außerordentlich gut – sogar mit neuen Rekordzahlen. Die Skipisten waren voll, Gäste und Einheimische konsumierten fleißig.
Das Wirtschaftsforschungsinstitut der Handelskammer Bozen (Wifo) stellte bei einer Umfrage im Jänner eine starke Erholung des Konsumklimas fest, deutlich stärker als im italienischen und europäischen Schnitt. Zuvor – bei der vorangegangenen Umfrage im Oktober – hatte es einen Einbruch gegeben.
Das Wifo prüfte gleich mehrmals nach, ob nicht irgendwo ein Rechenfehler vorliegt. Der große Sprung nach oben war kaum zu glauben.
„Die Inflationsrate ist zwar langsam rückläufig, aber langsamer, als auch ich es erwartet hätte.“
Was ist der Grund für das gute Konsumklima? Wo nehmen die Menschen trotz hoher Inflation das nötige Geld her?
Wifo-Direktor Georg Lun sagt, es gebe weiterhin einen Nachholeffekt nach Corona. Während der Pandemie sei Liquidität angesammelt worden und jetzt sei die Begierde nach Erlebnissen und Genuss groß. „Zudem“, so Lun, „ist die Arbeitsmarktlage äußerst positiv. Deshalb gibt es keine großen Befürchtungen, dass die finanzielle Situation der Haushalte einbricht.“ Ohne gefühlte Gefahr von Arbeitslosigkeit sei die Ausgabebereitschaft der Bevölkerung sehr hoch.
Gottfried Tappeiner merkt an, dass sich die Menschen in Zeiten hoher Inflation die Frage stellen, ob sie ihr Geld beisammen halten und die Ausgaben einschränken, um liquide zu bleiben – oder ob sie ihr Geld erst recht ausgeben, bevor die Inflation die Kaufkraft ganz auffrisst. „Die Wahl scheint auf die zweite Option gefallen zu sein, was für alle unerwartet kam“, meint der Volkswirt.
Wie lange hält die Kaufkraft?
Dabei stellt sich die Frage, wie lange diese Konsumlaune noch so weitergehen kann. Denn die Kaufkraft der Menschen sinkt kontinuierlich. Zwar werden jetzt manche Löhne an die Inflation angepasst, allerdings entwerten die Ersparnisse weiterhin.
Ausschlaggebend ist die weitere Entwicklung der Inflation. Bisher haben die Notenbanken nicht mit realitätsnahen Prognosen geglänzt. War anfangs von kurzfristigen Preissteigerungen die Rede, wurden wir im vergangenen Sommer und Herbst eines Besseren belehrt. Und nun wird der Zeitpunkt, an dem die Teuerungsrate wieder den Zielwert von zwei Prozent erreichen könnte, laufend nach hinten verlegt. Inzwischen ist in der Eurozone von Ende 2025 die Rede.
„Die Inflationsrate ist zwar langsam rückläufig, aber langsamer, als auch ich es erwartet hätte“, sagt Gottfried Tappeiner. Optimistische Prognosen, die Zwei-Prozent-Marke im Jahr 2024 wieder zu erreichen, würde er nicht unterschreiben, betont er. Allerdings geht Tappeiner von keinen großen Schwankungen der Inflation mehr aus.
Wifo-Direktor Georg Lun sieht keine große Gefahr, dass das Konsumklima in Südtirol in den nächsten zwei Quartalen einbricht. Je länger aber die Inflation hoch bleibt und es zu keinen Lohnanpassungen kommt, desto schwieriger werde die Situation. „Dann werden die Konsumausgaben irgendwann zurückgehen müssen“, bekräftigt Lun.
Er geht jedenfalls davon aus, dass die Inflation ihren Höchstwert überschritten hat und tendenziell rückläufig ist. Lun verweist dabei auf die stark gesunkenen Energiepreise, die sich zeitversetzt nach einigen Monaten auf die Inflation auswirken dürften.
Die Zinsen als weiterer Sorgenfaktor
Die Entwicklung des Leitzinses, der in der Eurozone aktuell bei drei Prozent liegt, zeigt weiter nach oben. In diesem Jahr ist mit weiteren Zinsschritten der Europäischen Zentralbank zu rechnen, um die Inflation nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Laut Georg Lun wird dies – zusammen mit dem Wegfall des Superbonus – Auswirkungen auf die Baukonjunktur haben, die derzeit noch recht positiv sei. Dabei rechnet der Wirtschaftsforscher vor allem beim privaten Bauen mit einer Abkühlung, da die hohen Zinsen für ein Liquiditätsproblem sorgen würden. „Bei Investitionen durch Unternehmen dürfte hingegen nicht viel passieren, da die Realzinsen aufgrund der hohen Inflation immer noch negativ sind“, meint Lun.
Gottfried Tappeiner argumentiert ähnlich. Die Zinsen seien zwar sehr stark gestiegen, ziehe man aber die Inflationsrate ab, seien sie so niedrig wie lange nicht mehr, „nämlich negativ“. Ein Kredit sei demnach nicht schlecht, da die getätigte Investition irgendwann mehr wert sei. Allerdings entstehe ein Zwischenfinanzierungsproblem.
Tappeiner zufolge wird dieses Liquiditätsproblem der oder die eine oder andere – etwa private Häuslebauer:innen – spüren. Vor allem jene, die schon vorher über die Grenzen dessen gegangen sind, was man finanzieren hätte sollen.
Einen größeren Einbruch der Unternehmensinvestitionen sieht Tappeiner jedenfalls nicht kommen. „Und ein leichter Rückgang würde nicht schaden, weil wir gerade bei baulichen Investitionen immer noch einen etwas überhitzten Markt haben.“
Fazit: Verhalten optimistisch
Die beiden von der SWZ befragten Wirtschaftsexperten erwarten sich eine weiterhin gute Entwicklung der Konjunktur in Südtirol. Die Eckdaten und auch die Erwartungen der Unternehmen seien erstaunlich positiv, erklärt Wifo-Direktor Georg Lun. Für eine gewisse Unsicherheit sorge die weltpolitische Lage – etwa der Ukrainekrieg und der Konflikt zwischen den USA und China: „Die Unternehmen können die Auswirkungen schwer einschätzen.“
Gottfried Tappeiner sagt, Südtirols Wirtschaft sei vorläufig in einer recht guten Situation. „Allerdings hat ein Teil der privaten Haushalte und ein nicht gar so kleiner Teil der Unternehmen seine ‚Fettreserven‘ aufgebraucht.“ Kommen nun stabilere Zeiten, sei dahingehend jedoch eine Erholung ohne größere Probleme zu erwarten.
Der Wirtschaftsprofessor blickt insbesondere aufgrund der ausgezeichneten Lage am Arbeitsmarkt positiv in die Zukunft. Dort sei vielmehr der Fachkräftemangel ein Thema. Deshalb gehe es nun darum, noch nicht vollständig ausgebildete Menschen für die Bedürfnisse der Unternehmen zu qualifizieren. Tappeiner glaubt, dass dies künftig immerhin rund 15 Prozent pro Geburtsjahr betreffen wird.
Weiters meint Tappeiner, dass aufgrund des Fachkräftemangels die Löhne steigen werden. Die Folge: „Manche Branchen mit geringer Arbeitsproduktivität werden Mühe haben, weil die Leute dorthin wechseln, wo sie besser verdienen.“
Weitere große Herausforderungen sind laut Gottfried Tappeiner der Umstieg auf erneuerbare Energie und die Digitalisierung. Bei beidem gebe es noch riesigen Aufholbedarf.
Info
US-Bankenpleiten sorgen für Unruhe
Erinnerungen an die Finanzkrise 2008 werden wach, als die Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers eine weltweite Lawine lostrat: In den USA hat es erneut einige Banken erwischt. Der prominenteste Fall ist die Silicon Valley Bank (SVB), die sich auf die Finanzierung von Start-ups spezialisiert hat. Die Bank konnte wegen Verlusten bei Investitionen in Anleihen die Geldauszahlung an Kundinnen und Kunden nicht mehr garantieren.
Die Regierung und die Notenbank Fed griffen schnell ein und sicherten den Schutz der Kundeneinlagen zu, ohne die Bank mit Steuergeldern zu retten. Auch die im Kryptogeschäft tätige Silvergate Capital und die Signature Bank gingen zuletzt pleite.
Die Unruhe ist groß. Welche Folgen könnte die Pleitewelle in den USA haben?
Wirtschaftsprofessor Gottfried Tappeiner meint: „Die Probleme in den USA sind die Folge einer Regulierungslücke. Nach der Bankenkrise 2008 wurden strenge Regeln eingeführt, die aber rasch wieder gelockert wurden. Europa hat die deutlich strengeren Regeln beibehalten. Die unmittelbaren Folgen sind überschaubar, weil wohl eine Art Anlagensicherung greifen wird.“
Tappeiner gibt aber auch zu bedenken: „Man kann noch nicht abschätzen, inwiefern die Investorenrisiken in Derivate verpackt und möglicherweise auch nach Europa verkauft wurden. Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, aber das war der Weg, über den auch die Lehman-Krise nach Europa schwappte.“
Wifo-Direktor Georg Lun sieht die Sache ebenfalls recht entspannt: „In Europa wurden seit der letzten Finanzkrise 2007/2008 sehr viele Anpassungen und Vorkehrungen getroffen, sowohl von der EU als auch von der EZB und den einzelnen Zentralbanken. Das Risiko einer vergleichbaren Situation wie jetzt bei der SVB-Bank schätze ich in Europa daher derzeit nicht so hoch ein.“