Bozen – Der Herzinfarkt lag nur sechs Tage zurück, als Landeshauptmann Luis Durnwalder Mitte Dezember bei seiner traditionellen Montagspressekonferenz bekannt gab, dass die Landesregierung am Vormittag eine „Entscheidung mit größter politischer Bedeutung“ gefällt habe: Die Schließung jener Stromleitungslücke am Brenner, die seit der Feuernacht 1961 klafft, wird endgültig in Angriff genommen, und zwar damit das Sinicher Werk des kriselnden Siliziumkonzerns Memc auf dem europäischen Markt günstigeren Strom einkaufen und somit die stillgelegte Produktion endlich wieder aufnehmen kann. Es sei dies eine gute Nachricht für die Memc-Mitarbeiter, die auf die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz hoffen dürfen, und eine gute Nachricht für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Süd- und Nordtirol, frohlockte Durnwalder. Günstiger Strom sei nämlich eine Grundvoraussetzung für die Wiederinbetriebnahme, weil die Herstellung der Memc-Siliziumprodukte ungemein energieintensiv sei, erklärte der Landeshauptmann und nannte auch gleich den voraussichtlichen Zeitpunkt der Produktionsaufnahme in Sinich: Mai 2014.
Zwar betonte Durnwalder, dass die getroffene Übereinkunft zwischen Memc, den Energiegesellschaften Sel und Tiwag, dem Land und dem staatlichen Stromnetzbetreiber Terna noch in Rom genehmigt werden müsse, trotzdem ließ er keinen Zweifel daran, dass hier ein Schlusspunkt unter eine Angelegenheit gesetzt wird, die über Monate hinweg regelmäßig in den Medien aufgetaucht war und die sich vor allem auch Landesrat Roberto Bizzo auf die Fahnen geschrieben hatte.
In der Folge erläuterte Durnwalder Einzelheiten des Deals, und das Landespresseamt verbreitete die Erläuterungen über eine Presseaussendung. Demnach koste die Leitung zwischen „2,5 und 7,5 Millionen“, wobei die Nordtiroler Tiwag die Leitung von Gries bis zum Brenner und die Südtiroler Sel die Fortsetzung von Brenner bis Brixen baue. Künftig könnten 70 Megawatt Strom pro Stunde fließen, wobei die Memc nicht den gesamten Strom benötige. „So kann der verbleibende importierte Strom über die Sel auch anderen Nutzern zur Verfügung gestellt werden“, schrieb das Landespresseamt. Und weiter: „Die Sel übernimmt die Kosten der Investition in die Leitung und verpflichtet sich bereits jetzt, den Strom billiger anzubieten.“ Denn die Bauarbeiten würden zwei bis zweieinhalb Jahre dauern, zu lange für die Memc. Wer sich die Mitteilung und die darauf folgenden Medienberichte zu Gemüte führte, kam zu einem eindeutigen Schluss: Die Memc bekommt ab sofort günstigeren Strom von der Sel und darüber hinaus von Sel und Tiwag auch noch eine Leitung gebaut, und die Sel holt sich das Geld dann wahrscheinlich zurück, indem sie künftig den restlichen Importstrom teuer an andere Kunden abgibt – denn irgendwie muss ja auch die Sel auf ihre Kosten kommen.
Gar mancher Südtiroler Unternehmer konnte solcherart Vorzugsbehandlung für die Memc nicht nachvollziehen. Okay, es ging um die Zukunft von 350 Mitarbeitern, trotzdem stieß den vielen größeren und kleineren heimischen Unternehmern der massive Einsatz des Landes für ein einziges Unternehmen, das den Rechtssitz noch dazu in Novara hat und in Sinich „nur“ ein Werk betreibt, sauer auf. Ganz aufmerksame Beobachter fragten sich zudem: Wie passt eine solche Extrawurst in eine Zeit, in der die EU gerade ein Beihilfeverfahren gegen Deutschland einleitet, weil es besonders energiefressende Unternehmen subventioniert, indem es sie von einer Öko-Umlage befreit?
Es ist ein Wunder, dass der große Protest ausblieb. Vielleicht saß der Schock über den Herzinfarkt des Landeshauptmanns und die Bewunderung für die schnelle Rückkehr in die Arbeit zu tief. Einer der wenigen, der sich zu Wort meldete, war LVH-Präsident Gert Lanz. In einer Aussendung äußerte er sich – ungewöhnlich zahm – lobend über die Übereinkunft, da günstigere Strompreise für ein Unternehmen erzielt werden können, kam dann aber zum Kern: „Die Herausforderung an Politik und Wirtschaft besteht nun darin, auch den restlichen Südtiroler Unternehmen konkurrenzfähige Strompreise anzubieten.“ Die Landtagsabgeordnete der Süd-Tiroler Freiheit Eva Klotz forderte in einer Pressemitteilung, dass „der nun zur Verfügung stehende verbilligte Strom allen zugute kommt, nicht nur einem einzigen Betrieb, nämlich der Memc.“ Und die Freiheitlichen reichten eine Landtagsanfrage ein: „Wie rechtfertigt die Landesregierung derartige Sondermaßnahmen für den Siliziumhersteller Memc?“
Viele Südtiroler Unternehmer wunderten sich derweil weiter. Und als die SWZ (noch vor Weihnachten) bei der Sel anrief, ob die Angelegenheit wirklich so ablaufe, wie dargestellt, klang Präsident Wolfram Sparber beinahe dankbar, dass sich ein Medium meldet: „Es besteht Klärungsbedarf, denn es hat in der Kommunikation manches Missverständnis gegeben.“ In Wirklichkeit sei alles ganz anders.
Zunächst hält Sparber fest, dass die Memc mit dem Staat schon seit Längerem eine Kooperationsvereinbarung für mögliche Hilfsmaßnahmen hat – die Memc ist neben einem deutschen Konzern der einzige große Siliziumhersteller Europas, weshalb der Staat „seiner“ Memc zu helfen versucht. In der Liste der möglichen Maßnahmen findet sich unter anderem die Schließung der Stromleitungslücke am Brenner. Weil aber der Bau einer Stromleitung nicht gerade zum Kerngeschäft der Memc gehört, ist die Memc an die Sel herangetreten, so Sparber. „Wir helfen gerne, wenn wir können. Das gilt für Memc, das gilt für die Gemeinden, und das gilt für jedes Unternehmen, das sich an uns wendet“, betont Sparber und fügt hinzu: „Es handelt sich hier um keine einseitige Bevorzugung von Memc.“ Vielmehr handle es sich um ein Gemeinschaftsprojekt von Memc, Tiwag und Sel. Gemeinsam will das Trio die Leitung bauen und den importierten Strom nutzen: Memc verwendet ihn selbst, Sel und Tiwag geben ihn über Auktionen an den Markt ab. Mit anderen Worten: Memc beteiligt sich an der Investition in die Leitung, und zwar sogar in erheblichen Ausmaß, denn in der gemeinsamem Gesellschaft, welche die Leitung bauen und führen wird, soll die Memc 48 Prozent der Anteile halten, Tiwag 33 Prozent und die Sel 19 Prozent – noch wird allerdings gefeilscht.
Noch ist auch gar nicht sicher, ob die Leitung überhaupt je gebaut wird. „Es gibt derzeit nur eine Vorvereinbarung zur Gründung der Gesellschaft. Es müssen noch alle Genehmigungen auf italienischer, österreichischer und europäischer Ebene eingeholt werden, was mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen wird“, erklärt Sparber. Die von Durnwalder genannten 70 Megawatt pro Stunde sind laut Sparber ebenfalls nur ein Richtwert: „Es könnte auch mehr sein oder weniger. Das hängt unter anderem von der Aufnahmekapazität des Netzes ab.“ Jedenfalls werde es sich – falls gebaut wird – um eine ganz normale Freileitung handeln.
Und was hat es mit den Sonderkonditionen auf sich, welche die Sel der Memc ab sofort auf den Strompreis gewährt? Sparber: „Wir liefern der Memc seit 1. Jänner Strom, aber zu ganz normalen Marktkonditionen wie an andere Unternehmen auch.“ Sicher dürfte Memc als willkommener Großabnehmer gute Konditionen erhalten. Aber Fakt ist, dass rund die Hälfte des Strompreises durch sogenannte Systemkomponenten sowie Steuern gebunden ist und der Stromanbieter – in diesem Fall die Sel – darauf keinen Einfluss nehmen kann (siehe SWZ 46/13 vom 29. November, „Gefräßige Steckdose“). Nur die andere Hälfte ist „frei“, und bei Rahmenabkommen, die etwa die Wirtschaftsverbände für ihre Mitglieder aushandeln, sind Skonti von etwa zehn Prozent auf diese Hälfte vorgesehen – recht viel mehr ist nicht drin.
Ähnliches gilt übrigens für Importstrom, sollte er irgendwann tatsächlich über den Brenner fließen: Die Hälfte des Strompreises ist fix, die andere Hälfte hängt vom Verlauf an den europäischen Strombörsen ab. Dass Italien die höchsten Strompreise Europas hat, ist zu einem großen Teil den belastenden Systemkomponenten und Steuern geschuldet. Daran kann kein Importstrom der Welt etwas ändern. Übrigens: Der Piemont hat bereits eine grenzüberschreitende Stromleitung aus Frankreich. Dass dort der Strom besonders billig wäre, hat aber noch niemand festgestellt.
















