Meran/London – „Wie wird die Welt nach der Marke aussehen? Oder über die Marke hinaus?“ So beginnt ein Artikel des „Sole- 24 Ore“ vom 14. Juli, der dem Meraner Stefan Siegel und seiner Plattform für junge Designermode Not Just A Label (NJAL) gewidmet ist. Die italienische Wirtschaftszeitung schenkt dem jungen Unternehmer, der seit zehn Jahren in London lebt und arbeitet, viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sein Ansatz, junge Kreative der Modewelt und ihre Anhänger zusammenzuführen, „gilt als einer der bedeutendsten und zukunftsträchtigsten der Branche“, schreibt „Vogue Italia“. Auch die SWZ hat im Juli einem neuen Projekt von Stefan Siegel eine kurze Nachricht gewidmet: Eine neue Messe in Vicenza soll im Mai 2014 die ganze innovative Mode aus Siegels kulturellem Schmelztiegel mit den zum Teil kriselnden Werkstätten der italienischen Mode weiterverschmelzen. So könnten Italiens kleinstrukturierte Nähereien in Zukunft Mode aus dieser Kreativplattform produzieren und einen ganz neuen, innovativen und globalen Markt bedienen.
Wer ist der Südtiroler, der so viel Anerkennung in einer innovativen ebenso wie glamourösen Branche verdient? Sein Lebenslauf liest sich fast wie ein Roman. Die SWZ vereinbarte also ein Treffen anlässlich seines jüngsten Besuchs in der Heimat: die Hochzeit seiner Schwester.
Schloss Rubein am Sonntagnachmittag: Die letzten Hochzeitsgäste verabschieden sich. Stefan Siegel sitzt in einer idyllischen Ecke des Gartens im mageren Schatten von Sträuchern, es ist sommerlich heiß. Der Meraner hat die junge Modefotografin Jasmin Deporta motiviert, die Bilder für das Porträt zu machen. Die Boznerin schwirrt um ihn herum und knipst in regelmäßigen Abständen. „Mit 16, nach dem Biennium, habe ich Meran verlassen. Mein Vater hatte einen Pilotenschein, und so wollte ich damals Militärpilot werden“, fängt Siegel an zu erzählen. „Ich ging an die italienische Kadettenschule ‚Francesco Morosini‘ in Venedig, die von der Marine geführt wird. Es hieß um 6 Uhr aufstehen und im Sommer keine Ferien haben, sondern die Zeit auf Kriegsschiffen und Segelbooten der Marine verbringen“, so Siegel.
Sicherlich eine Schule fürs Leben, aber am Ende war die Zeit doch zu hart, als dass er sich noch weitere fünf Jahre an der Militärakademie hätte plagen wollen. „Den Pilotenschein in der Tasche, ließ ich mir die Haare wachsen und ging nach Wien studieren.“
Obwohl er in Venedig Uniform tragen musste – oder vielleicht deshalb –, interessierte er sich schon in der Kadettenschule für Mode. In Wien suchte er sich dann bald neben seinem Wirtschaftsstudium einen Job: zunächst in einer renommierten Wiener Herrenboutique und zwischenzeitlich beim Echo Medienhaus, das zwei Wiener Lifestylemagazine herausgibt. Dann wieder in Herrenboutiquen: „Irgendwann ist die Arbeit spannender als das Studium selbst“, meint er. Ein Kunde entdeckte ihn als Model. „Zwei Wochen später war ich auf dem Set eines Videodrehs für die Elektronik-Band Enigma, kurz darauf nahm mich eine Modelagentur auf. In der Modelszene war man gerade von Muskelprotzen auf Babyfaces übergegangen. Ich hatte so ein Babyface, war dünn – mit langen Haaren. In Mailand war ich deshalb für Prada und Armani auf dem Laufsteg.“
Die Prüfungen, die er in Angriff nahm, wurden in der Folge immer spärlicher. „An der Uni war ich immer der, der zehn Minuten zu spät kommt und eine halbe Stunde zu früh geht. Der Vorteil war, dass ich, wenn ich vom Modeln genug hatte, mich wieder gern aufs Studieren konzentrierte – und umgekehrt.“ Zuletzt war er in dieser Zeit als stellvertretender Geschäftsführer für den Flagship-Store von Wolfgang Joop tätig.
Als Stefan Siegel nach sechs Jahren seinen Magister in Betriebswirtschaft erlangte, hatte er genug von schlecht bezahlten Kreativjobs. Nach nur drei Bewerbungsgesprächen erhielt er ein Angebot des weltweit tätigen Beratungsunternehmens Ernst&Young, für das Corporate-Finance-Team in Zürich zu arbeiten. Er war damals 25. „Das ist nur vier Monate gut gegangen, dem plötzlich durften Beratungsunternehmen kein Investment-Banking mehr machen. An einem Freitag sind wir 40 Leute bei Ernst&Young ohne Job hinausspaziert, am Montag drauf haben wir bei der Privatbank Sal. Oppenheim angefangen, mit 95.000 Franken Startgehalt.“
Sein Leben in Zürich kam ihm damals etwas surreal vor; er fuhr einen schönen, alten Porsche und führte ein Leben wie ein Fünfzigjähriger, wie er empfindet. „Aber es wurde mir dort auf Dauer zu viel über Geld gesprochen.“
So stellte er nach zweieinhalb Jahren eines Tages seinen Lebenslauf auf eine einschlägige Internetseite, wurde von einem Headhunter kontaktiert, führte 35 Telefoninterviews, flog für weitere Gespräche mit acht großen Banken nach London und hatte am Ende sechs Angebote vorliegen: „Ich bin ganz einfach auf der Welle des Mega-Booms von 2006 mitgeschwommen“, gibt er zu. Er entschied sich für Merrill Lynch, weil dieses Unternehmen ihm für das schon fortgeschrittene Jahr den kompletten Jahresbonus zahlte. Geld ist in dem Moment dann doch nicht so nebensächlich!
Siegel erzählt immer entspannter und unprätentiöser. Die Sonne ist gewandert, deshalb verändert er seine Position, zumal die Fotografin keine Schatten im Gesicht brauchen kann. Der junge Mann lässt aber sein tailliertes Jackett über den Bermudahosen an. Er erzählt später, dass die bekannte britische Designerin Vivienne Westwood heuer nur kniefreie Hosen für ihre Männeranzüge ausgewählt hat.
„Den Jobstart bei Merrill Lynch musste ich dann wegen eines Autounfalls auf Jänner verschieben. In London angekommen, sagte man mir, dass ich für New York eingeteilt und Mitglied im Consumer-Retail-Team war, das die Modebranche betreut. Ich kam dort mit den Jungs von Harvard und Stanford zusammen.“ Während die damit prahlten, dass sie bis in die Nacht hinein arbeiten, ging Siegel abends immer schon um sieben nach Hause, um sich mit seinen alternativen Freunden aus der Modeszene zu treffen. „Viele Jungdesigner haben sich damals darüber beklagt, dass sie es schwer haben, der Welt zu zeigen, was sie können.“ Andererseits habe es Kunden von Merrill Lynch wie die Gucci Group oder LVHM gegeben, die durchaus interessiert waren, in Jungdesigner zu investieren. „Wie sie aber mit den unbekannten und dennoch vielversprechenden Kreativen in Kontakt kommen könnten, das haben sie nicht gewusst“, erkannte Siegel damals eine Marktlücke.
Lang hielt ihn das Geld nicht bei Merrill Lynch, kein ganzes Jahr. Als der erste Bonus ausgezahlt war, kündigte er. „Tags drauf bin ich draußen, nur vierzehn Tage später platzt die Lehman-Brothers-Bombe“, schmunzelt er über sein gutes Timing. Seine Pläne standen längst fest: Er wollte eine Online-Plattform gründen, auf der die unzähligen Jungdesigner kostenlos ihre Kollektion präsentieren könnten. So würden sie nahtlos mit der Modeindustrie und den Endverbrauchern zusammengebracht werden.
Er entschied sich, in London zu bleiben; sein Vater, ein Meraner Wirtschaftsberater, riet ihm dazu, weil es in England leicht ist, eine Firma zu gründen. „Ich bin zu meiner Bank gegangen und habe von meinen Plänen erzählt – die vermittelten mir sofort einen Steuerberater, und am nächsten Tag war die Firma gegründet.“ Siegel nahm seinen Banker-Bonus von 20.000 Britischen Pfund als Startkapital her, Vater und Bruder steuerten 15.000 Pfund und ihr Know-how bei. Weil Siegel sich ausrechnete, dass das Geld schnell aufgebraucht sein würde, suchte er im preiswerten Osten Londons, wo viele Künstler und Kreative wohnen, eine kleine Wohnung.
„Einen Profi-Web-Programmierer konnte ich mir nicht leisten, aber mein Bruder Daniel, damals erst zwanzig, war ein Informatik-Profi. Er verwendete für unsere Plattform eine Open-Source-Software für soziale Netzwerke, die er geschickt anpasste“, erzählt Siegel.
In der ersten Zeit hatte Siegel allerdings noch keine Einnahmequellen. Er hoffte, später der Industrie die vielversprechendsten Designer vermitteln zu können oder der erste zu sein, der selbst in die erfolgreichsten von ihnen investiert. „Es war sauhart. Nach neun Monaten hatte ich rund tausend Designer auf der Plattform, war aber praktisch bankrott. Erst mit der Zeit gelang es mir, den Designerhochschulen den Wert meines Netzwerkes für deren Absolventen klarzumachen, sodass sie mich unterstützten, auch finanziell.“ Auf der aktuellen Firmenpräsentation von NJAL finden sich die Logos von namhaften Modehochschulen und Kunden, ebenso jede Menge anerkennende Zitate aus namhaften Zeitungen und Modemagazinen.
Stefan Siegel macht eine Pause. Fotografin Jasmin Deporta setzt sich dazu und hört zu, Bilder hat sie genug gemacht. Was Siegel beherrscht, ist der gute Kontakt zu den Medien – darüber scheint ihm die kurze Zeit beim Verlag den nötigen Einblick verschafft zu haben. Zweifelsohne besitzt er aber auch das nötige Fingerspitzengefühl im Umgang mit den oft argwöhnischen Moderedakteuren. Die SWZ findet beispielsweise seinen Namen als Autor in diversen Modeblogs und als Ko-Autor von Vogue-Beiträgen.
Auf 13.000 Designerprofile stößt man heute unter www.notjustalabel.com. „Inzwischen suchen wir die Designer aus“, betont Siegel. „Wir bekommen 20 bis 30 Bewerbungen pro Tag und bewerten sie über eine Qualitätskontrolle.“ Black sheep, also schwarze Schafe, ist das Logo, das die besonders vielversprechenden Kreativen auszeichnet.
Von der für heuer geplanten Million Pfund Umsatz – letztes Jahr war es die Hälfte – erzielt NJAL vierzig Prozent über den Online-Shop, der 30 Prozent Kommission abwirft, den Rest nimmt er über Serviceleistungen oder Vermittlungsgebühren ein, beispielsweise an große Unternehmen wie Sony, Mango und Swarovski. Die bekannte britische Designerin Vivienne Westwood hat mittlerweile ihre Internetabteilung zu NJAL ausgelagert: „Sie zahlen uns die Profi-Programmierer, die wir auch für uns nutzen können, und wir liefern Westwood eine zeitgemäße Webpräsenz“, erläutert Siegel die Partnerschaft.
Was Siegel so erfolgversprechend macht, ist seine Brückenfunktion für die junge Modeszene. „Die Modeindustrie sucht den Zugang zu jungen Kreativen, hat eben keine Ahnung, wer die sind, die zählen! Umgekehrt haben die Kreativen eher Vorbehalte gegenüber der Modeindustrie, was auch nicht immer gerechtfertigt ist“, so Siegel.
Die Ziele für die nächsten drei Jahre? „Zunächst die neue Messe in Vicenza. Sie könnte für viele italienische Manufakturen eine Chance bedeuten, ihre auf Sparflamme arbeitenden Werkstätten wieder hochzufahren.“ Des Weiteren stecke noch viel Potenzial im Online-Shop. „Inzwischen wird die Shop-Kollektion nicht mehr auf Lager produziert, sondern die Bestellungen werden direkt an die Designer weitergeleitet, und die sind so flexibel, dass sie die Teile innerhalb weniger Tage produzieren, oft sogar auf Maß.“
Stefan Siegel macht sich auf, um nach Verona zu fahren, wo er sein Flugzeug zurück nach London nehmen wird.