Timaru/Melbourne/München – 14,3 Millionen Treffer spuckt Google aus, wenn nach „John Hattie“ gesucht wird. Ganz unbedeutend ist der Mann folglich nicht, im Gegenteil, für die britische Tageszeitung „Times“ ist Hattie der „wohl einflussreichste Bildungswissenschaftler der Welt“. John Hattie, 63, geboren im neuseeländischen Kleinstädtchen Timaru, arbeitet als Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne. Doch nicht diese Tätigkeit hat den Pädagogen weltberühmt gemacht, sondern eine Studie. 15 Jahre lang arbeitete Hattie an der Antwort bzw. den Antworten auf die Kernfrage der Schulbildung: Was ist guter Unterricht? Hattie hat dazu keinen einzigen Schüler befragt, auch keine Lehrer oder Eltern – er hat kurzerhand vorhandenes Datenmaterial gesammelt und ausgewertet. Mehr als 800 englischsprachige Metaanalysen – das sind Zusammenfassungen von Studien – ackerte Hattie durch. Der Neuseeländer fabrizierte praktisch ein Resümee der Resümees, wobei mehr als 50.000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern einflossen. Das Werk wurde bereits mit der „Entdeckung des Heiligen Grals“ verglichen.
Das Ergebnis der Riesenstudie führt so manche (politische) Bildungsdiskussion, die in den vergangenen Jahren überall auf der Welt und so auch in Südtirol geführt wurde, ad absurdum. Während Glaubenskriege darüber geführt werden, ob nun die Fünf- oder die Sechstagewoche für die Kinder besser ist, ob Prüfungen und Benotungen sein sollen oder nicht, ob die Wiederholung einer Klasse dem Kind nützt oder es demotiviert, ob das deutsche oder das italienische Schulsystem besser ist, ob diese oder jene Unterrichtsmethode die zielführendere ist und, und, und, kommt John Hattie zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Lernerfolg der Schüler hängt in erster Linie von Menschen ab und nicht von Methoden und Konzepten! Er hängt von den Lehrern ab. Was die Lehrer selbst manchmal nicht wirklich glauben wollen, nämlich dass ihr Einfluss auf die Gesellschaft enorm ist, hat Hattie wissenschaftlich untermauert.
Die Lehrer stehen in Hatties Hitliste der Faktoren, welche den Lernerfolg von Schülern beeinflussen, ganz oben. Lediglich auf Rang 106 hingegen findet sich die Klassengröße wieder, obwohl eine Reduzierung der Klassengröße gerne – auch in Südtirol – als Wundermittel hochstilisiert wird. Mit anderen Worten: Die Kinder und Jugendlichen brauchen nicht viele Lehrer, sie brauchen hingegen gute Lehrer. Die finanzielle Ausstattung der Schule beeinflusst den Lernerfolg der Schüler laut Hattie-Studie ebenso nur am Rande wie der öffentliche oder private Charakter einer Schule oder die jeweiligen Unterrichtsmethoden – laut Hattie existieren keine pädagogischen Patentrezepte, was die jahrzehntelange Reformwut in Italiens Schulsystem als vergebene Liebesmüh entlarvt. Die mehrmonatigen Ferien in den USA und Australien (die es auch in Italien und Südtirol gibt), bezeichnet Hattie übrigens als lernschädlich.
John Hattie hat herausgefunden, dass sich der Lernerfolg weniger von Schule zu Schule als vielmehr von Klasse zu Klasse unterscheidet. Daraus schließt der Pädagoge: Die Lehrer sind die Hauptverantwortlichen für den Lernerfolg bzw. -misserfolg ihrer Schüler. Unter anderem zitiert Hattie einen Versuch in Schweden, wo ausgewählte Lehrer eine Problemklasse übernahmen und imstande waren, die vermeintlichen Problemschüler innerhalb eines Jahres zu akzeptablen Schülern zu machen.
Hattie fordert die Lehrer daher auf, sich ständig in Frage zu stellen. Wenn bei Schülern der Lernerfolg zu wünschen übrig lässt, dann sollen sie sich in erster Linie fragen, ob sie – die Lehrer – etwas falsch machen, anstatt die Schuld auf die Faulheit oder Begriffsstutzigkeit des Schülers bzw. auf das Elternhaus abzuwälzen.
Was folgt aus der Hattie-Studie? Sie unterstreicht erstens, dass die Gesellschaft ihre pauschale Geringschätzung für die Lehrerschaft schleunigst ablegen sollte – die Allerbesten müssen motiviert werden, den Lehrerberuf zu ergreifen, aber diese Motivation wird untergraben, wenn der Berufsgruppe ständig vorgehalten wird, eine ruhige Kugel zu schieben, zu viel Ferien zu haben und für 50 Minuten Arbeit 60 Minuten bezahlt zu bekommen. Zweitens lehrt die Studie, dass bestenfalls schon vor der Lehrerausbildung eine strenge Auslese vorgenommen werden müsste (wie dies bewerkstelligt werden soll, ist eine andere Frage) – der Lehrerberuf ist nämlich nur teilweise erlernbar. (Lehrer-)Kompetenz hat sicher mit gepauktem Fachwissen zu tun, aber viel stärker mit pädagogisch-didaktischen, psychologischen, erzieherischen, zwischenmenschlichen, kommunikativen Fähigkeiten. Kurzum, Lehrer müssen mit Kindern und Jugendlichen umgehen können, was eine starke Persönlichkeit genauso wie Einfühlungsvermögen, überzeugendes Auftreten, ein gewisses Maß an Belastbarkeit, eine Erklärungs- und Begeisterungsgabe und vieles mehr voraussetzt.
Weil aber die Auslese nicht gelingt und weil sich in der Lehrerschaft nicht nur Allerbeste tummeln, sind die Lehrer (auch die guten) ständig unguten Diskussionen ausgesetzt, auch was die Entlohnung betrifft. Das wiederum mindert die Begehrlichkeit des Lehrerberufs – ein Teufelskreis.
Hattie arbeitet wissenschaftlich auf, was schon der legendäre Apple-Gründer Steve Jobs in seiner Biographie schrieb, als er Amerikas Bildungssystem kritisierte: Es sei hoffnungslos veraltet und werde durch Gewerkschaftsregeln lahmgelegt. Lehrer sollten wie Fachkräfte behandelt werden, so Jobs, und nicht wie Fließbandarbeiter in der Industrie. Rektoren müssten sie nach Leistung einstellen und entlassen können. Es sei absurd, dass der Unterricht an amerikanischen Schulen immer noch darauf hinauslaufe, dass ein Lehrer an der Tafel stünde und mit Textbüchern arbeite.
Seit der Veröffentlichung seiner zwei Bücher „Visible Learning“ und „Visible Learning for Teachers“ wird John Hattie herumgereicht. Der Lehrerschaft hat Hattie einen großen Gefallen gemacht – sie aber auch gleichzeitig enorm in die Verantwortung genommen.