Bozen – Der seit dem Ende der Wirtschaftskrise von 2009 wieder zunehmende Verkehr über den Brenner und die Tiroler Maßnahmen gegen den Lkw-Ansturm waren in jüngster Zeit Thema von österreichisch-italienisch-deutschen Verkehrsgipfeln, von Treffen zwischen Vertretern der Europaregion Tirol und von Beratungen zwischen Tirol und Südtirol. Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter hat dabei seine Position eisern verteidigt: Über den Brenner rollen inzwischen über 2,3 Millionen Lkw im Jahr, mehr als auf allen anderen Alpenübergängen zusammen. Dies, sagt er, ist darauf zurückzuführen, dass die Brennerroute zwar nicht immer die kürzeste, aber die kostengünstigste ist. Platter will durch Verkehrsbeschränkungen und eine Anhebung der Maut südlich des Brenners auf das Niveau der Tiroler Brennerautobahn den sogenannten Umwegverkehr abstellen und mehr Waren auf die Schiene zwingen. Tirol hat zu diesem Zweck ein Nacht- und Wochenendfahrverbot sowie ein sektorales Fahrverbot verhängt (die Beförderung bestimmter Güter auf der Straße ist untersagt), eine umstrittene Blockabfertigung eingeführt und eine Ausfahrt zwecks Billigtankens untersagt. Da dies alles bisher wenig wirksam war, denkt Platter sogar an eine Kontingentierung der Lkw-Fahrten. Ziel sei es, wie er jüngst betont hat, die Nutzung auf eine Million Lkw im Jahr zu beschränken, genau jene Menge, die die Schweiz für ihre Alpenübergänge (insbesondere Gotthard) angepeilt und auch erreicht hat. Auf die derzeitige Frequenz umgelegt, bedeutet dies, dass 1,3 Millionen Fahrten auf andere Alpenübergänge verteilt werden müssen oder entfallen, indem die Transporte auf die Schiene verlagert werden. Anders geht es nicht, denn die Luft- und Lärmbelastung überschreite die gesetzlichen Grenzwerte und sei eine Zumutung für Mensch und Natur, betont Platter.
Südtirol ist diesbezüglich in einer ähnlichen Lage, denn südlich des Brenners reiht sich auf der Normalspur der Autobahn immer öfter Lkw an Lkw. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind allerdings ganz anders.
Tirol ruft zwar im Brennerverkehr nach der Schiene und setzt sich für eine Korridormaut ein, ist aber selbst kaum davon betroffen. Die Tiroler Exporte in Richtung Italien sind im Vergleich zu den Tiroler Gesamtexporten im Wert von 12,7 Milliarden Euro eine vernachlässigbare Größe. Und was in Richtung Norden geht, wird überwiegend mit Lkws nach oder durch Deutschland befördert. Müsste Tirol die Hälfte des Warenverkehrs auf der Straße, den es erzeugt, auf Druck Bayerns auf die Bahn verlagern, hätte es ein Problem!
Südtirol exportiert Waren im Wert von 4,8 Milliarden, vorwiegend in Richtung Norden. Es ist auf Gedeih und Verderben darauf angewiesen, dass seine Erzeugnisse pünktlich und zu konkurrenzfähigen Transportkosten an den Bestimmungsorten ankommen. Eine Korridormaut oder eine obligatorische Nutzung der Bahn (insbesondere der betriebswirtschaftlich unsinnigen Rollenden Landstraße) würde nicht bloß die „Frächterlobby“ treffen, wie es immer dargestellt wird, sondern jeden einzelnen Exporteur (und Importeur) – von den Autozulieferern bis zu den Obstgenossenschaften. Die Bozner Handelskammer hat aus gutem Grund eindringlich davor gewarnt, das Problem Brennerverkehr nur aus einer Perspektive zu betrachten und einseitige Lösungen anzustreben. Wenn die Tiroler Maßnahmen dazu dienen, Bewegung in die Entwicklung zu bringen, haben sie auch ihr Gutes. Wenn sie aber in eine „Tirol-zuerst-Politik“ ausarten, könnten sie am Beginn einer gefährlichen Gegeneinander-Politik stehen. Italien ist auf Exporte in Richtung Norden angewiesen – und damit besonders auf die Brennerautobahn. Nicht von ungefähr schließt der Vertrag für die Verlängerung der Konzession für die Brennerautobahn eine Korridormaut aus, lässt aber sehr wohl eine Staffelung nach Schadstoffklassen zu.
Die Bahn ist dabei ein ganz eigenes Kapitel. Es ist unbestreitbar, dass sie mehr Transporte übernehmen muss. Aber die Tatsache, dass die Eröffnung des Gotthardbasistunnels in der Schweiz zu keinem wirklich entlastenden Anstieg des Warentransportes auf der Schiene geführt hat, zeigt, dass auch der Brennerbasistunnel keine neue Ära einleiten wird. Solange nicht alle Zulaufstrecken zwischen München und Verona fertiggestellt, neue Bahnhöfe für den Containerumschlag errichtet und mehr betriebswirtschaftliche Philosophie bei den großen Bahnbetreibern eingezogen ist, kann die Wende nicht gelingen. Um die Herausforderung deutlich zu machen: Um eine Millionen Lkw-Fahrten zu übernehmen, müsste die Bahn auf der Brennerstrecke fast 29.000 Containerzüge zu je 35 Waggon mit je einem 12-Meter-Standardcontainer zusätzlich im Jahr einsetzen, das allein sind 80 Züge täglich. Dies ist ohne die notwendige Infrastruktur ausgeschlossen – und die Bevölkerung würde außerdem auf die Barrikaden gehen. Dazu kommt, dass Südtirol von diesem neuen, leistungsfähigen Bahnverkehr ausgeschlossen zu werden droht, da es über keine Einrichtung zu deren Nutzung verfügt. Das wäre in Kombination mit Straßenkontingenten tödlich für Wirtschaft und Arbeitsplätze.
Auf der anderen Seite sind Spekulationen erlaubt, was geschehen könnte, wenn eine höhere Maut und Mengenbeschränkungen einen größeren Teil des Lkw-Verkehrs auf andere Alpenübergänge lenkten. Die Tauernroute (Salzburg–Villach–Tarvis) liegt zu weit im Osten, der Mont-Blanc-Tunnel sehr weit im Westen, und die Schweiz wird an ihrer Eine-Million-Lkw-Strategie festhalten und bei einem Überschreiten vermutlich ihrerseits die Benutzungsgebühren anheben. Sie ist zwar in das EU-System eingebunden, hat aber ihre Beschränkungen gegenüber Brüssel dadurch erwirkt, dass sie den Gotthardbasistunnel, den sie selbst nicht unbedingt benötigt, auf eigene Kosten ohne jede finanzielle Hilfe der EU errichtet hat.
Wie es weitergeht, ist offen. Fest steht nur: So wie in den letzten Jahren kann es nicht weitergehen, da hat Günther Platter wohl recht. Allerdings ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass ein europäisches Mautsystem für Lkws kommt, das alle Strecken betrifft und nicht einzelne Länder benachteiligt, und dass die Fahrzeuge in den nächsten zehn Jahren sehr viel umweltfreundlicher werden (neben Euro 6 auch Gasantrieb und Elektromotoren, die mit Wasserstoff betrieben werden), als dass die Bahn in dieser Zeit entscheidend zur Problemlösung beiträgt. Eine umfassende Umstellung des Fuhrparks sollte auch eine Aufhebung zeitlicher Beschränkungen wie des Nachtfahrverbotes ermöglichen. In diesem Fall könnte die Brennerautobahn auch mehr als 2,3 Millionen Lkws bewältigen, ohne überlastet zu sein. Zwischenzeitlich dürfte die sich abzeichnende wirtschaftliche Rezession für eine Stagnation oder gar Abnahme des Verkehrs sorgen. In Jubel wird darüber aber niemand ausbrechen.