Frankfurt – Was ist eigentlich aus „Cocooning“ geworden? Diesen Trend definierte die US-Trendforscherin Faith Popcorn im Jahr 1991 als „den Impuls, nach drinnen zu gehen, wenn es draußen zu hart und gefährlich erscheint. Einen Sicherheits-Kordon zu ziehen, damit du nicht abhängig bist von einer gefährlichen, unsicheren Welt – von den Bedrohungen und Zumutungen, die von rüden Kellnern über Lärmbelastung bis zu Drogenkriminalität, Rezession und Aids reichen. Cocooning dreht sich um Isolation und Vermeidung, Frieden und Schutz, Geborgenheit und Kontrolle – eine Art Super-Nesting.“
Das Bedürfnis nach einer Form des Rückzugs ist ein fundamentaler humaner Instinkt. Wie wir unser Heim empfinden, und wo wir uns heimisch fühlen, definiert unser mentales und physisches Wohlbefinden ebenso wie unser Gefühl für den Zustand der Gesellschaft. Cocooning war einer der wichtigsten sozialen Trends der 1990er-Jahre. Er repräsentierte ein regressives, isolierendes Verhalten als Reaktion auf eine hyperindividualistische Gesellschaft – in einer Zeit, die im Gedächtnis bleiben wird für ihren Wirtschaftsboom, den Aufstieg der Yuppies und den Beginn des Promi-Kultes.
Die Drift unseres heutigen Jahrzehnts in Richtung einer neuen „Wir-Kultur“ hat jetzt eine sozialere und weichere Form des Cocooning hervorgebracht, die sich aus der Sehnsucht nach einer kooperativeren Gesellschaft speist – einem Bedürfnis nach Konnektivität und Kommunikation ebenso wie nach Privatheit und Sicherheit. Der Begriff, den uns die dänische Sprache (über den Umweg des Norwegischen) dafür geschenkt hat, lautet „Hygge“ (gesprochen etwa: „Hügga“).
Das Wort definiert einen neuen Weg des Wohllebens im 21. Jahrhundert. Im Unterschied zu Cocooning ist Hygge nicht individualistisch, sondern setzt an Kommunikationsbedürfnissen und der Sehnsucht nach Komfort, Gehaltenwerden, Gebundensein und Geborgenheit an. In Differenz zur Wellness geht es nicht nur um (Selbst-)Verwöhnung und passive Entspannung, sondern um aktives Gestalten unseres unmittelbaren Lebensumfeldes. Hygge handelt von sozialer, aber auch ästhetischer Wärme.
Nach Meik Wikings „Little Book of Hygge“ geht es um das Gefühl, wenn man mit seinem geliebten Partner in warmen Socken am Feuer sitzt, während es draußen dunkel, kalt und stürmisch ist. Es ist das Gefühl, gutes „Comfort Food“ mit den besten Freunden zu teilen, bei Kerzenlicht und entspannter Konversation. Hygge sind auch diese kalten, frischen Blaue-Himmel-Morgen, wenn das Licht, das durch die Fenster dringt, genau richtig ist.
Kann „Hyggeness“ zu einer glücklichen Gesellschaft beitragen? Meik Wiking, der beim Happiness Research Institute in Kopenhagen arbeitet, glaubt daran. Dänemark gilt als glücklichste Nation der Welt. Laut dem „UN World Happiness Report“ sind materielle Lebensstandards essenziell für die Zufriedenheit – jenseits dieser Basislinie aber „entwickelt sich das Glück entlang menschlicher Beziehungen“.
Typisch für den Hygge-Lebensstil ist es, sich auf kleine Dinge zu konzentrieren, auf die es wirklich ankommt: mehr Zeit mit Freunden und Familie zu verbringen und die guten Dinge des Lebens zu genießen. Das kann vieles bedeuten – von einem energetisierenden Fahrradausflug bis zum Kakaotrinken in einem Café, vom gemeinsamen Kochen bis zum Outdoor-Picknick bei offenem Feuer.
Dies mag alles etwas simpel klingen, weist aber eine klare Resonanz mit dem derzeitigen Kultbegriff der Achtsamkeit auf. Hygge basiert essenziell auf dem Segen sozialer Unterstützung und definiert sich damit auch als starker Gegentrend zum Individualismus – ohne dabei kollektivistisch im Sinne von „Gemütlichkeit“ zu werden. Es geht um eine achtsamere Gesellschaft und Lebensweise.
Betrachtet man unseren hektischen modernen Lebensstil, scheint es unmöglich oder sogar lächerlich, einen Hygge-Lebensstil zu pflegen. Wie ein Geschäftsmann neulich sagte: „Wenn es um meinen Lebensstil geht, habe ich kaum Zeit zum Leben, geschweige denn für Stil.“
Ein Schlüssel zum Hygge-Stil liegt in der konsequenten Art und Weise, wie die Dänen mit ihrer Work-Life-Balance umgehen. Selten arbeiten Dänen länger als bis 16 Uhr. Laut Cathy Strongman, einer britischen Journalistin in Kopenhagen, wirkten die Büros am späteren Nachmittag wie Leichenhallen, und Wochenendarbeit gelte als Tätigkeit für Verrückte. Wer viel arbeitet, so der dänische Verdacht, hat keine Familie und keine Freunde. 78 Prozent aller Dänen treffen sich in einer Gruppe mit Freunden, Familien oder Kollegen mindestens einmal in der Woche – nur 60 Prozent der Europäer tun das im Durchschnitt.
Es wird behauptet, dass die Vorteile eines Hygge-Lebens nicht nur im höheren Lebensglück bestehen, sondern auch in besserer Gesundheit – all das Fahrradfahren und Spazierengehen in der frischen Luft! Aber kann das wahr sein? Gibt es auch eine dunkle Seite? Der Nachteil besteht in der Dichte des intimen Erlebnisraums, den Hygge erzeugt. Als Fremder oder Zugereister ist es schwierig, in diese engen Bindungen familiärer und freundschaftlicher Netzwerke hineinzukommen. Hygge kann ein Integrationshindernis sein. Meik Wiking: „Es braucht Jahre voller Geduld und Hartnäckigkeit – aber nach dem Durchbruch hat man lebenslange Freundschaften geformt.“
Hygge ist ein Antimodell zur flüchtigen urbanen Lebensweise – innerhalb der urbanen Lebensweise. Doch es geht nicht um „neue Spießigkeit“, sondern um einen aufgeklärten, gestalterischen Umgang mit Dingen, Menschen, Situationen. Natürlich lässt sich Hygge leicht von Medien und Werbeagenturen als „Lifestyle“ vereinnahmen und medial zum Klischee verunstalten, so wie bereits Cocooning oder Wellness. Aber der Trend signalisiert auch ein starkes soziales Element, eine gesellschaftliche Bewegung für Konnektivität und digitale Erleuchtung.
Information: Der Text wurde entnommen aus dem „Zukunftsreport 2017 – Jahrbuch für gesellschaftliche Trends und Business-Innovation“. Mit dem Report möchte das Zukunftsinstitut, das die Publikation herausgibt, einen Streifzug durch Trends, Themen und Personen bieten, die die Menschheit in den kommenden Jahren beschäftigen werden. Dafür werden wichtige Entwicklungen und wesentliche Treiber von Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie und Politik beleuchtet.
Info
Ein kleines ABC der zehn
wichtigsten Hygge-Faktoren
Atmosphäre – Gedämpftes Licht, bevorzugt Kerzenlicht
Dankbarkeit – Sei den Dingen gegenüber achtsam!
Frieden – Lass das Drama ruhen, lass die Politik draußen.
Genuss – Die vier K: Kaffee, Kuchen, Kekse, Kakao
Gleichheit – Das Wir kommt vor dem Ich.
Harmonie – Halte dein Ego aus der Gleichung raus!
Komfort – Entspann dich, entschleunige, lass dich fallen.
Präsenz – Schalte das Handy aus, sei im Hier und Jetzt.
Schutz – Dein „Clan“ gibt Dir Schutz und Sicherheit.
Zusammensein – Arbeite an den Verbindungen zu Menschen,
nicht an den Verbindungstechnologien.