Bozen – In der Welt der Spitzengastronomie könnte theoretisch jeder Gast ein:e Restauranttester:in sein. Anonym und unauffällig verkosten sie Menüs und entscheiden anhand einer Momentaufnahme, ob eine Auszeichnung infrage kommt – auch in Südtirol. Die Kriterien reichen dabei von Produktqualität und Originalität über den Service bis hin zum Ambiente. Besonders in der Spitzengastronomie haben diese Auszeichnungen eine große Bedeutung. Im kleinen Südtirol gibt es vergleichsweise viele Betriebe mit hervorragenden Bewertungen – sei es im renommierten Guide Michelin oder auch in den Führern von Gault&Millau und Falstaff. Sie alle bestätigen nicht nur die kontinuierliche Qualität eines Restaurants, sondern können auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben – positive wie negative.
Der Sterne-Effekt
Wohl am bekanntesten und mit dem größten Prestige verbunden sind die Sterne von Michelin. Die französische Marke ist heute längst nicht mehr nur für Autoreifen bekannt. Bereits seit 1900 veröffentlicht der Reifenhersteller seinen Restaurantführer. Damals gab es allerdings noch keine Sterne. Diese wurden erst 1926 eingeführt. Drei von ihnen kann ein Restaurant maximal erreichen – so wie hierzulande das Atelier Moessmer unter der Leitung von Spitzenkoch Norbert Niederkofler.
Ob ein Restaurant im Guide vertreten ist und wie es bewertet wurde, erfahren die Betriebe im November eines jeden Jahres, wenn die neue Ausgabe erscheint. Wem diese Ehre zuteilwird, darf sich häufig neben dem Prestige über ein Umsatzwachstum freuen. Aus erster Hand berichtet etwa der Franzose Joël Robuchon, 1989 von Gault&Millau zum Koch des Jahrhunderts ernannt. Im Laufe seiner Karriere sammelte er insgesamt 32 Michelin-Sterne. „Mit einem Stern bekommt man etwa 20 Prozent mehr Umsatz. Zwei Sterne bringen etwa 40 Prozent mehr, und mit drei Sternen verdoppelt sich der Umsatz“, sagte Robuchon in einem Interview mit dem Magazin „Food&Wine“.
Ähnliches berichtet die einzige Südtiroler Sterneköchin, Anna Matscher. Sie hat vor mittlerweile 27 Jahren erstmals einen Michelin-Stern für ihr Restaurant erhalten. „Im ersten Jahr nach der Vergabe des Sterns haben wir ein Umsatzplus von etwa 30 Prozent verzeichnet“, erinnert sich Matscher. Damals seien die Zeiten jedoch andere gewesen. Es habe weniger mediale Aufmerksamkeit gegeben, als es heute der Fall sei. Trotzdem könne sie sagen, dass der Michelin-Stern ihr Restaurant stark gepusht habe.
Chris Oberhammer vom Restaurant Tilia in Toblach machte in seinem Betrieb hingegen andere Erfahrungen. Als er 2006 seinen ersten Michelin-Stern erhielt, war der erhoffte Aufschwung nicht so stark wie erwartet und von vielen prophezeit. „Das war bei uns einfach nicht der Fall“, so Oberhammer. Dennoch habe der Stern langfristig eine größere Sichtbarkeit ermöglicht, die ihm heute zugutekomme.
Die „jugendlichen“ Gourmetführer
Neben dem Guide Michelin gibt es noch andere Führer, die Auszeichnungen mit besonderer Strahlkraft verleihen, insbesondere jene von Falstaff und Gault&Millau. „Im Vergleich zum Guide Michelin werden diese oft als etwas jugendlicher wahrgenommen“, so Christoph Huber, Chefkoch und Pächter im Restaurant Zur blauen Traube in Algund. Diese Wahrnehmung bedeute jedoch nicht zwangsläufig, dass sie ein jüngeres Publikum anziehen.
Von Gault&Millau können Restaurants mit maximal fünf Kochmützen bzw. Hauben ausgezeichnet werden. Anders als der Guide Michelin bietet der Gault&Millau-Führer eine Bewertung auf einer Skala von 0 bis 20 Punkten, ähnlich dem französischen Schulnotensystem. Dabei beginnen die Auszeichnungen effektiv erst bei elf Punkten (eine Haube für „ambitionierte Küche) und reichen bis 19,5 Punkte oder fünf Hauben als „Höchstnote für die weltbesten Restaurants“.
Das ursprünglich österreichische Magazin Falstaff ist hingegen besonders im deutschsprachigen Raum bekannt. Neben Themen wie Wein und Lifestyle deckt das Magazin auch die Gastronomie ab, und zwar mit einem eigenen Restaurantführer. „Dafür suchen sowohl das Falstaff-Team als auch die Falstaff-Gourmet-Community nach neuen Restaurants, welche dann getestet und bewertet werden. Nicht nur von den Testerinnen und Testern, sondern auch von den Mitgliedern der Gourmet-Community“, so Othmar Kiem. Er ist Mitgründer von Falstaff Italia und langjähriger Weinjournalist für das Magazin. Der Restaurantführer vergibt bis zu 100 Punkte, zusammengesetzt aus mehreren Kategorien: Essen, Service, Wein und Ambiente. Wie sich die Falstaff-Bewertung wirtschaftlich auf die Betriebe auswirkt, lasse sich kaum sagen, so Kiem. „Dafür fehlt der konkrete Einblick. Allerdings haben die Betriebe natürlich eine größere Reichweite und mehr Sichtbarkeit durch die Bewertung von Falstaff.“ Allein die Auflage des neuen Print-Magazins Falstaff Italia liegt ab November bei 50.000 Stück – und das viermal pro Jahr.
„Immer auf das konzentrieren, was man gerne tut“
Und in welchem der drei Führer möchte eine Küche am liebsten genannt werden? Christoph Huber hat selbst international Arbeitserfahrung gesammelt. Er sieht alle Auszeichnungen als gleich wichtig an. „Letztendlich werden sie alle für das Essen und das Erlebnis des Gastes im Restaurant vergeben. Deshalb sollte man weniger für die Auszeichnungen kochen und sich dafür immer auf das konzentrieren, was man gerne tut. Der Rest kommt dann von selbst.“
Egal welche Auszeichnung er selbst erhalten würde, seine Philosophie und die Küche würden sich deshalb nicht ändern, sagt er. Bisher folgt er seinem Leitsatz. Zuletzt wurde er von Gault&Millau mit vier Hauben bedacht. Falstaff bewertete sein Restaurant 2023 mit 93 Punkten. Mittlerweile gebe es gar einige Gäste, die auch weitere Strecken auf sich nehmen, um bei Huber zu speisen. „Sie kommen nur für das Essen und fahren dann wieder nach Hause. Das ist für einen Koch die größte Ehre und nicht selbstverständlich“, freut sich Christoph Huber.
Chris Oberhammer vom Sternerestaurant Tilia in Toblach berichtet ebenfalls von seinen Erfahrungen mit Weitgereisten. Dank der Sichtbarkeit in den Restaurantführern verzeichne er einen größeren Zugang von internationalen Gästen. Dieser Zufluss werde heute immer stärker, meint Oberhammer, zumal die Dolomiten weltweit immer bekannter werden. Besonders wichtig sei da der Michelin-Stern, denn einige der Gäste würden sich die Restaurants online über den Guide Michelin aussuchen. „Ansonsten kämen die Amerikaner vermutlich nicht ins Restaurant“, so Oberhammer.
Machen die Auszeichnungen reich?
Wie sehr Gäste in Sternerestaurants zur Kasse gebeten werden, untersuchte eine Studie von Carly Shin an der George Washington University. Demnach erhöhen Restaurants, die mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet werden, ihre Preise im Durchschnitt um 14,8 Prozent. Bei drei Sternen würden die Preise im Schnitt sogar um 80,2 Prozent steigen. Man könnte meinen, dass höhere Preise automatisch zu mehr Umsatz und Gewinn führen würden. Machen die Auszeichnungen also reich?
Nachdem das Restaurant Tilia (damals noch in Vintl) von Chris Oberhammer erstmals mit einem Stern ausgezeichnet worden war, habe sich die wirtschaftliche Situation alles andere als rosig gestaltet. Das Lokal sei flächenmäßig zu groß gewesen. Die Mitarbeitenden und Infrastruktur hätten so hohe Kosten verursacht, dass diese mit dem Umsatz aus dem Restaurant kaum zu decken gewesen seien. Über acht Jahre habe Oberhammer in Vintl keine positive Bilanz geschrieben. Zu hoch waren die Ausgaben, etwa für seidene Tischdecken, Perserteppiche oder verschiedenste edle Weingläser.
Hinsichtlich der Auszeichnungen ist Sterneköchin Anna Matscher der Meinung, dass alles eben Vor- und Nachteile habe. Für sie sei der Stern eigentlich nie das Ziel gewesen. „Der erste Stern kam für uns damals zu früh. Nach vier Jahren verloren wir ihn wieder. Wir waren Quereinsteiger und hatten nicht wirklich darauf hingearbeitet. In den Jahren nach dem Verlust des Sterns merkten wir dann, dass uns die Auszeichnung fehlt – auch beim Umsatz“, so Matscher. Zugleich bestätigt sie: „Mit den Auszeichnungen gehen auf alle Fälle höhere Betriebskosten einher. Alles muss auf Topniveau sein. Von der Ware bis zur Tischdeko.“ Für ihr Restaurant kaufe sie etwa seit Beginn an immer einheimisches Fleisch. Dieses koste rund doppelt so viel, als wenn sie das Fleisch im Großhandel beziehen würde. Dazu kämen die steigenden Preise für Gemüse und Fisch. „Auch beim Personal steigen die Kosten stetig“, so Matscher, „reich wird man also sicher nicht.“
Der Schein trügt
Sind die höchsten Auszeichnungen in der Restaurantbranche also zwingend mit hohen Betriebs- und Personalkosten verbunden? „Diese Entscheidung trifft jeder selbst. Aber weil viele Restaurantbesitzer in andere Betriebe gehen und kopieren, gibt es wenige mit eigenständigem Konzept. Viele haben einen enormen finanziellen Aufwand, um ein Gourmetrestaurant zu eröffnen. Ob dann überhaupt ein Stern kommt, ist eine andere Frage“, so Oberhammer. Er wollte den ökonomischen Druck in Vintl nicht mehr und schloss daraufhin das verschuldete Restaurant an Silvester 2009. „Parallel habe ich auch die Kündigung an alle Gourmetführer geschickt.“
In Toblach wagte er dann den Neustart. Mit Businessplan und Kredit als Basis wählte Oberhammer im neuen Tilia einen anderen Ansatz. Er verzichtete etwa komplett auf die Tischdecken und Weinkarten. Selbst eine Speisekarte gab es nicht mehr – diese wurde auf die Scheiben im Restaurant geschrieben. Eines blieb gleich: die Qualität der Küche. Als das Restaurant 2013 mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, war die Freude bei Oberhammer größer denn je. Auch die ökonomische Situation habe sich deutlich verbessert. „Für mich war dies der Beweis, dass der Stern effektiv für die Qualität der Küche ausgeteilt wird – und nicht für die ledernen Sessel oder die Luxuseinrichtung“, so Oberhammer.
Ein Verlust der Spitzenbewertungen und des Sterns wäre sowohl für Oberhammer als auch für Anna Matscher heute keine große Geschichte mehr. „Natürlich wäre der Stolz angeknackst“, so Oberhammer, „aber die Gäste, die immer wieder kommen, sind nicht wegen der Auszeichnungen dort. Sie kommen fürs Essen. Das ist das Krisensichere.“
Tobias Vieider
DER AUTOR hat ein Sommerpraktikum bei der SWZ absolviert.