Bozen – Andreas Hamel, Mathematik-Professor an der Freien Universität Bozen, hat eine klare Vorstellung davon, was Mathematiker leisten sollten: „Wir denken Dinge, die noch nie jemand gedacht hat, und versuchen, Zusammenhänge zu sehen, wo noch nie jemand Zusammenhänge gesehen hat.“ Mathematiker sollen Neues denken. Genau dies tut Professor Hamel in einem Bereich, der Neues dringend notwendig hat: im Finanzsystem. Damit stellt er die Fundamente neoliberalen Wirtschaftsdenkens infrage.
„Theoretische Optimierung“ nennt sich das Forschungsfeld, auf das sich Professor Hamel spezialisiert hat. Es ist ein Arbeitsbereich, der sich all dessen mathematisch annimmt, was man maximieren oder minimieren kann. Geht es also in der Wirtschaft darum, Parameter möglichst stark wachsen zu lassen (etwa Gewinne) oder möglichst gering zu halten (z.B. Risiken), kommen die Modelle von Optimierungstheoretikern zum Einsatz.
Was einfach klingt, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – eine Wissenschaft für sich, vor allem dann, wenn Parameter verglichen werden sollen, die sich gar nicht vergleichen lassen. „Jeder kennt den Spruch, dass man Äpfel mit Birnen nicht vergleichen kann“, sagt Hamel. Trotzdem scheint es, als ob man diese Weisheit in der Wirtschaftswelt mitunter ignoriert, etwa dann, wenn es um die Kalkulation eines Risikos geht – ausgedrückt in Zahlen und ermittelt auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten.
Nur: Spätestens die Finanzkrise hat gezeigt, dass diese Modelle unzureichend sind, dass etwa Banken von der Krise hinweggefegt worden sind, die als sicher galten. Das Problem: Bei der Risikoanalyse wurde auf einfache Modelle gesetzt, indem etwa die Soll- und Habenseite (ausgedrückt in einer Währung) gegeneinander abgewogen wurden. Ein ähnlich einfaches Modell kommt heute auch immer noch zum Einsatz, wenn es etwa um die Vorschriften zu den Liquiditätsrücklagen geht.
„Das Problem ist, dass hier Größen miteinander verglichen werden, die man eigentlich nicht miteinander vergleichen kann“, erklärt der Professor. So verfügten Banken über Rücklagen in Euro, Pfund, Dollar oder Yen, über Bonds und Versicherungen, die allesamt einen Wert hätten, aber auch ganz unterschiedliche Transaktionskosten und eine unterschiedliche Entwicklung in der Zeit. Wer sie in einen Topf werfe, vereinfache eine hochkomplexe Situation also über die Maßen, meint Professor Hamel.
Hier setzt die von Andreas Hamel mitbegründete Theorie der „Set Optimization“ an, in der es darum geht, solche eigentlich miteinander nicht vergleichbare Größen in ein Modell einfließen zu lassen. An dessen Ende steht nicht eine Zahl, sondern ein Vektor (oder sogar eine Menge von Vektoren) und damit auch keine Handlungsvorgabe, sondern eine ganze Reihe von mathematisch fundierten Handlungsoptionen. Die Überlegung dahinter ist einfach: Mathematische Modelle berücksichtigten nie alle Aspekte der Wirklichkeit, Handlungsoptionen könnten daher nicht auf Zahlen reduziert werden, unter denen man sich dann die größte oder kleinste aussuche und glaube, sie entspräche der perfekten Entscheidung. „Entscheidungen hängen auch von externen Faktoren ab, die wir im mathematischen Modell nicht vorhersehen können“, erklärt der Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Uni Bozen.
Für Hamel hat die Theorie der Set Optimization nicht nur theoretische Vorteile gegenüber bisher angewandten Modellen, sondern durchaus auch einen positiven Nebeneffekt: „Wird dem Manager mathematisch nur eine Handlungsoption als die optimale präsentiert und diese funktioniert nicht, wird er sich auf das mathematische Modell berufen“, so der Mathematikprofessor. „Hat er aber einen Spielraum, zwischen unterschiedlichen Optionen zu wählen, dann trägt er auch die volle Verantwortung für seine Entscheidung.“
Hamels Ansatz greift im Übrigen weit über das Finanzsystem hinaus. Set Optimization sei auch dazu geeignet, statistische Probleme anzugehen, biete ein Modell für das „Multicriteria Decision Making“, für auf unterschiedlichen Kriterien basierende Entscheidungsprozesse also, und liefere auch gänzlich neue Ansätze für die mathematische Ökonomie – und das beschränkt sich nicht auf den Elfenbeinturm der Wissenschaft.
Professor Hamels Erklärung dafür: Derzeit gehe man in der Wirtschaftswissenschaft davon aus, dass jeder Akteur eine Präferenz habe, mit der alles mit allem – also auch die sprichwörtlichen Äpfel mit Birnen – verglichen werden könne, dass er also genau wisse, was er um welchen Preis kaufen oder verkaufen wolle. Daraus leitet man die „utility function“ ab, mit der sich der Nutzen jedes Einzelnen beschreiben und mit anderen vergleichen lässt. Die gleichzeitige Maximierung der „utility functions“ sorgt für ein Gleichgewicht auf dem Markt, das also, was als „unsichtbare Hand des Marktes“ gilt – und als Grundlage des neoliberalen Wirtschaftsdenkens.
Laut Hamel werde dabei allzu häufig die Tatsache außer Acht gelassen, dass diese Theorie nur unter restriktiven Voraussetzungen gelte: „So muss jeder Marktteilnehmer stets alles mit allem vergleichen können und über alles informiert sein – eine Annahme, die in der Realität wohl nur schwer haltbar ist.“ Zudem müssten alle Akteure eine „utility function“ maximieren, die es dann gar nicht gäbe, wenn sie eine Präferenz hätten, die auch Unvergleichbarkeiten zulasse. In solch einem Fall könne kein Gleichgewicht mehr zustande kommen: „Ich glaube deshalb nicht, dass es die unsichtbare Hand des Marktes gibt“, so Hamel.
Auch hier gelte es, mit der Set Optimization neue Maßstäbe zu setzen. Und das ist durchaus keine Zukunftsmusik: „Unsere Theorie ist so weit entwickelt, dass wir dabei sind, sie in einem Buch zusammenzufassen und darin auch eine Reihe von Anwendungsbeispielen zu geben“, so der Professor, dessen Passion für die Mathematik ansteckend wirkt. „Ich habe so viel Freude an mathematischen Strukturen“, erklärt Hamel, den die Mathematik auch im Alltag nicht loslässt: Wenn man eine logisch-mathematische Schulung habe, dann falle es leichter, unsinnige Entscheidungen zu vermeiden. „Das heißt aber nicht, dass ich das auch immer tue“, grinst Andreas Hamel.