Debora Vivarelli ist gestern nach Paris gereist, wo demnächst die Olympischen Spiele beginnen. Nach 2021 in Tokio ist es Vivarellis zweite Teilnahme. Dazu empfehlen wir unseren Artikel aus dem SWZarchiv.
Bozen/Eppan/Kaltern – Südtirol hat gar einige Spitzensportler*innen hervorgebracht. Dorothea Wierer, Dominik Paris, Jannik Sinner – diese Namen kennt jede*r. Bei Debora Vivarelli ist das etwas anders. Auch sie ist Sportlerin, trainiert hart und ist erfolgreich – in der schnellsten Rückschlagsportart der Welt: Tischtennis, das allerdings am Rand der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit angesiedelt ist. 37 Goldmedaillen bei Italien- und Jugenditalienmeisterschaften hat sie bisher gewonnen, bei acht Europa- und zehn Weltmeisterschaften war sie dabei.
Im August vergangenen Jahres stand die 27-Jährige beim Turnier des Weltverbandes ITTF (Challenge- Plus-Serie) in Nigeria im Halbfinale, schaffte es am Ende auf Platz 3. In der Weltrangliste steht sie derzeit auf Rang 69, lässt damit alle Landsleute, Frauen wie Männer, hinter sich. Während man mit einer vergleichbaren Platzierung in anderen Sportarten eine schöne Summe an Preisgeldern anhäuft, kann man davon im Tischtennis nur träumen, denn nur die allerwenigsten werden reich.
Tischtennis: Kleine Schläger, kleines Geld
Als Vivarelli 2019 bei den Portugal Open nach drei gewonnenen Partien unter den Top 16 landete, erhielt sie gerade einmal 350 Euro Preisgeld. „Wir haben in Italien Glück, dass der Verband einen Großteil der Kosten für die Turniere übernimmt“, erklärt Vivarelli. Die Suche nach Sponsoren sei ebenfalls nicht einfach. Vivarelli hat einen Materialsponsor und weitere Unterstützer, die eine Hilfe bieten. „Davon leben kann man sicher nicht“, schmunzelt sie.
Ihr Einkommen sichert sich Vivarelli daher anderweitig, auf zwei Wegen, um genau zu sein. Erstens bestreitet sie für den ASV Eppan Tischtennis die nationale Meisterschaft der Serie A1, erhält dafür eine monatliche Entlohnung. Zweitens ist sie Teil der Heeressportgruppe, tritt für diese bei den Italienmeisterschaften und anderen nationalen Turnieren an. Durch diese vielen verschiedenen Wettkämpfe füllt sich Vivarellis Terminkalender vor Beginn der Saison immer schnell. „Es gibt praktisch keine Pause“, sagt sie, „Die Saison dauert 365 Tage.“ Während sie unter der Woche meist im Ausland unterwegs ist, stehen am Wochenende die Meisterschaftsspiele auf dem Programm. In diesem Jahr kommt ein besonderer Wettbewerb dazu – die Olympischen Sommerspiele in Tokio.
Die Qualifikation der bis zu 172 Athleten für die Einzel- und Mannschaftswettbewerbe ist kompliziert. Es werden unter anderem kontinentale Qualifikationsturniere abgehalten, aber auch über die ITTF-Weltrangliste ist eine Qualifikation möglich. Derzeit stehen Vivarellis Chancen gut, in Tokio dabei zu sein.
Vivarelli: Talent in die Wiege gelegt
Dass Vivarelli überhaupt zum Tischtennis kam, ist kein Zufall. Ihre Eltern waren selbst erfolgreiche Spieler, Vater Sandro schaffte es bis in die höchste italienische Liga, Mutter Gabi bis in die zweithöchste. Sie leitet heute den Verein, bei dem Vivarelli unter Vertrag steht, den ASV Eppan Tischtennis. Auch Vivarellis Schwestern, Elisa und Evelyn, spielen beide. Obendrein ist Elisas Ehemann, selbst ehemaliger Profi, mittlerweile Vivarellis Trainer.
Seit sie sechs Jahre alt ist, trainiert sie mehrmals in der Woche. Ihr Talent zeigt sich bald, sie gewinnt mehrere Italienmeisterschaften. Bis sie 15 Jahre alt ist, bleibt Vivarelli in Südtirol, doch die Trainingsbedingungen sind mangelhaft, weshalb sie sich entscheidet, nach Mailand zu ziehen. Drei Saisonen spielt sie bei Alto Sebino, zwei bei San Donato und weitere zwei bei Castelgoffredo. Dann beschließt sie, in die Heimat zurückzukehren. „Meine Eltern befürchteten, die Arbeit, die ich bis dahin investiert hatte, könnte umsonst gewesen sein, als ich über eine Rückkehr nachdachte“, erinnert sich Vivarelli.
Doch auch in Südtirol wusste sie weiterhin zu überzeugen, nicht zuletzt wegen ihrer Zielstrebigkeit. Zudem verbesserten sich die Trainingsbedingungen stetig. Mittlerweile wurde ein kleines Trainingscenter in der Bozner Sportzone Pfarrhof eingerichtet. Dort kann Vivarelli praktisch rund um die Uhr ein- und ausgehen. In der alten Übungsstätte, der Turnhalle der Mittelschule Eppan, waren die Zeiten aufgrund der großen Nachfrage – und des daraus resultierenden dicht getakteten Stundenplans – knapp bemessen. Nun muss nichts mehr vor dem Training auf- und nachher wieder abgebaut werden, sondern alles bleibt an seinem Platz. Es ist die einzige Tischtennishalle in Südtirol, in der 16 Tische durchgehend bespielbar sind. Das Projekt wird von der Provinz Bozen unterstützt.
Sechs Stunden Training am Tag
Vivarellis Trainingsplan ist straff. Zweimal zwei Stunden täglich steht sie am Tischtennistisch, einmal täglich wird ein bis zwei Stunden an der Fitness und Ausdauer gefeilt. Ein Fokus liegt auf der Beinarbeit, hinzu kommt die Stärkung von Schultern, Ellbogen und Rücken, um Verletzungen vorzubeugen. Wichtig sind auch Schnelligkeit und Reaktion. Dafür nutzt Vivarelli seit Kurzem ein Lichtsystem, das auf dem Tisch aufgestellt werden kann. Sobald eines der vielen Lämpchen aufleuchtet, muss Vivarelli es schnellstmöglich berühren. Links, vorn, links, rechts – die Lämpchen simulieren die Bewegung des Balls, und die Augen müssen folgen.
Kaum in einem Sport ist der Sehsinn so fundamental wichtig wie beim Tischtennis. In kürzester Zeit muss Vivarelli die Körperbewegungen ihrer Gegner wahrnehmen und versuchen, daraus abzuleiten, wie der Ball zurückkommt – und wo er landet, denn genau diese Voraussicht mache einen richtig guten Spieler aus. „Timo Boll steht schon eine Sekunde vorher dort, wo der Ball hinkommt“, beschreibt sie das Ausnahmetalent von Deutschlands bestem Tischtennisspieler.
Aufgrund der hohen Geschwindigkeit sei vieles am Tisch Kopfsache, sagt Vivarelli, denn während einem der Ball um die Ohren fliegt, muss man die Ruhe bewahren und die richtigen Entscheidungen in einem Bruchteil von Sekunden treffen. „Tischtennis spielen ist wie ein 100-Meter-Lauf, während dem man Schach spielt“, bringt es Vivarelli auf den Punkt. Neben dem körperlichen Training darf daher mentales nicht fehlen. Yoga und Meditation helfen ihr, die innere Ruhe zu finden. Seit Jahren arbeitet sie außerdem mit dem bekannten Südtiroler Mentalcoach Gabriele Ghirardello zusammen. Die richtigen Gedanken sind nicht nur während des Spiels entscheidend, sondern auch davor und danach, vor allem, wenn mal nicht alles glatt läuft.
Im vergangenen Jahr steckte Vivarelli in einer Krise. „Es war eine sehr anstrengende Saison: Koffer packen, verreisen, spielen und wieder von vorn. Stundenlanges Training. Irgendwann fragt man sich: wofür?“ Die Familie baute sie wieder auf. Mit dem Ziel Olympiaqualifikation vor Augen kämpfte sie sich aus ihrem Tief und spielt gerade eine der besten Saisonen ihrer Karriere.
Keine Chance gegen asiatische Übermacht
Nichtsdestotrotz bleibt Vivarelli realistisch. Eine Platzierung in den Top 40 sei beinahe unmöglich zu erreichen, zu groß sei die Übermacht der asiatischen Gegnerinnen. „Wenn du mit sechs zu spielen beginnst, fangen sie mit vier an. Wenn du sieben Stunden trainierst, sind es bei ihnen neun“, sagt sie. Das sei zwar gut für die Konkurrenz, nicht so sehr aber für die Motivation. Tischtennis ist Nationalsport in vielen asiatischen Ländern. Die Jugendförderung ist top, die Trainingsbedingungen sind es ebenfalls. Gespielt wird vor ausverkauften Hallen. Ganz anders sieht es in weiten Teilen Europas aus. In Deutschland liegt der Bundesligaschnitt der Männer bei knapp über 400 Zuschauern, die Spiele der Frauen sind weniger gut besucht. In Eppan kommen rund 50 Fans zu den Partien, der Eintritt ist frei.
Um ihrem Sport zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, rührt Vivarelli in den Social Media fleißig die Werbetrommel. Ihren 3.800 Followern auf Instagram präsentiert sie Fotos von Turnieren, dem Training, aber auch von ihrem Privatleben. Aus dem möchte sie Tischtennis eigentlich so gut wie möglich verbannen. In ihrer Wohnung in Bozen, in der sie gemeinsam mit dem Eishockeyspieler Gianluca „Jonny“ Vallini lebt, finden sich weder Fotos von ihr im Sportoutfit noch Medaillen oder andere Trophäen. „Die habe ich alle bei meinen Eltern untergebracht“, erklärt Vivarelli. „Zu Hause möchte ich einfach abschalten können.“ Die Tischtennisbälle bleiben außerhalb der Halle ebenfalls in der Tasche. In der Freizeit gegen Hobbyspieler antreten bedeutet andere Schläger, andere Tische, andere Ergebnisse, lacht sie: „Da kann ich mich nur blamieren.“
Die Serie In der Serie „Jung und hungrig“ stellt die SWZ junge Menschen in und aus Südtirol mit den verschiedensten Lebensläufen vor. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie sind jung und hungrig nach Erfolg. Alle Artikel können auf SWZonline oder über die SWZapp nachgelesen werden.