JUNG & HUNGRIG – In Meran sind seine Wurzeln, auf dem Eis seine Flügel. Daniel Grassl zählt zu den besten Eiskunstläufern Italiens. Ein Leben unter Strom, getrieben von Disziplin, Sehnsucht – und der Kunst, niemals stillzustehen.
Meran – Hinter der Tür in Daniel Grassls Elternhaus in Meran stapeln sich Pokale. Aber es sind nicht seine. „Die sind von meinem Vater, vom Tennis“, sagt Daniel lachend und zuckt die Schultern. „Eiskunstlauf, das ist eine andere Welt.“ Hier gibt es meist Medaillen – und davon hängen etliche in seinem alten Kinderzimmer oder liegen ordentlich in Schachteln im Regal. Dazwischen: unzählige Plüschtiere. „Ich liebe Teddys einfach“, sagt Daniel mit einem breiten Grinsen.
Ein Leben unter Strom
Die Augen des 23-Jährigen leuchten, wenn er spricht. Gleichzeitig wirken sie fokussiert, fast elektrisch geladen. Man merkt, Daniel steht immer ein wenig unter Strom – als würde in ihm ständig eine Energie vibrieren, die nie ganz stillsteht.
Gerade erst war er noch in Mailand, bei der letzten medizinischen Visite der Saison. Morgen geht es nach Malaysia – Urlaub mit seiner Schwester, die Assistenzärztin in Bozen ist. Zwei Wochen lang abschalten, nicht ans Eislaufen denken. „Das sind die einzigen 14 Tage im Jahr, in denen ich wirklich loslasse“, lacht Daniel. „Letztes Jahr waren wir in Thailand.“
Daniel spricht mit einem leichten italienischen Akzent, auch wenn seine Muttersprache Deutsch ist. „Deutsch habe ich mittlerweile fast ein wenig verlernt, ich spreche es nur noch zu Hause“, erklärt er, während ihm manchmal die passenden Worte fehlen und er kurzerhand ins Englische oder Italienische wechselt.
Seit der ersten Mittelschule wird Daniel auf Italienisch unterrichtet. Sein Alltag als Jugendlicher war eine logistische Meisterleistung seiner Eltern: Jeden Morgen brachten sie ihn zum Training nach Neumarkt, danach ging es mit einer Trainerin weiter zur Schule nach Trient. Abends holten sie ihn irgendwo wieder ab. „Das war schon ein enormer Aufwand für meine Eltern“, sagt Daniel leise und voller Dankbarkeit.
Daniel sitzt auf dem Bett in seinem alten Kinderzimmer. In den Regalen stehen unzählige Teddys. Foto: SWZ
Zwischen Eis und Filmen
Heute lebt der 23-Jährige in Turin, in einer WG zusammen mit einem anderen Eisläufer. Trainiert bei Edoardo De Bernardis und studiert im Fernstudium Filmografie. Kino liebt er fast so sehr wie das Eislaufen – später will Daniel Sportdokumentationen drehen. „Vor allem Dokumentarfilme, aber auch Zeichentrick-, Action- und Horrorfilme interessieren mich.“
Während er erzählt, wandern Daniels Hände unruhig hin und her. Er versucht, mit der linken die Rechte zu bändigen. „Ich habe mehrere Tics, schon seit meiner Kindheit“, sagt er und winkt das Thema lächelnd ab. Auch auf dem Eis mache er manchmal komische Sachen mit den Händen. Aber, sobald das Programm beginnt, verwandle sich alles: Die Tics verschwinden, der Körper gehorcht, jede Faser strebt nach Perfektion.
Alle zwei Monate kehrt Daniel heim nach Meran, schläft in seinem alten Kinderzimmer, spaziert mit seinem Hund „Kori“ – einem Shiba Inu – durch die Straßen. „Kori heißt auf Japanisch Eis“, erzählt Daniel. „Ich mag Japan, dort ist Eiskunstlaufen Nationalsport. Auf der Straße erkennen mich viel mehr Menschen als in Südtirol.“
Daniels Alltag in Turin ist diszipliniert: Sein Tag beginnt morgens um 7.50 Uhr mit Trockentraining, dann mehrere Stunden auf dem Eis, Tanzen, Ballett, Yoga. „Meistens bin ich um 15.30 Uhr zu Hause, und wenn ich nicht zu müde bin, lerne ich noch für die Uni oder mache mit Freunden einen Spaziergang im Park.“
„Ich bin stur und genau.“ Daniel Grassl
Vom Eishockey zum Eiskunstlauf
Sein Weg aufs Eis begann mit sieben Jahren – beim Eishockey. Aber schnell merkte der zarte blonde Junge: Harte Körperkontakte sind nichts für ihn. Stattdessen übte er lieber Figuren, drehte Pirouetten, sprang. Die erste Trainerin erkannte Daniels Talent, der Rest ist Geschichte: Mit 15 der erste Vierfach-Lutz, mit 16 landete er als erster Europäer den Vierfach-Rittberger, wurde viermal Italienmeister.
„Ich bin stur und genau“, sagt Daniel über sich selbst. „Aber ich habe immer Freude am Training gehabt. Das hat mir geholfen, auf Partys oder Trinken mit Freunden zu verzichten. Natürlich hat es mir auch erleichtert, dass ich eigentlich nur mit Eiskunstläufern zusammen war. In der Schule, im Training. Da waren wir alle gleich.“ Auch beim Essen war Disziplin nie ein Problem: lieber gesund als ungesund. Sein Lieblingsessen: Poke Bowls. Alkohol trinkt der Profi-Sportler kaum. „Wenn überhaupt, dann mal ein Radler.“ Daniel ist 1,77 Meter groß und wiegt 62 Kilogramm. „Wir Eisläufer müssen keiner strikten Diät folgen, wie zum Beispiel die Skispringer. Aber natürlich braucht man zum Springen Kraft und da ist es hilfreich, nicht zu viel Gewicht in die Luft schrauben zu müssen.“
„Bei der Sperre, da habe ich mich wirklich schwergetan, das zu akzeptieren, und habe vieles infrage gestellt.“ Daniel Grassl
Kuscheleinheit. Daniel mit seinem Hund ‚Kori‘. Foto: SWZ
Mit 21 zog Daniel für ein paar Monate nach Boston. „Dann war ich für viele Shows in Japan und habe noch für ein paar Monate in Moskau trainiert.“ Doch Heimweh war Daniels ständiger Begleiter. „Das Training in Amerika ist zum Beispiel ganz anders als hier, da wird man nur ganz kurz von den Trainern täglich angeschaut, den Rest arbeitet man allein. Und in Russland ist das Training ein ständiger Wettkampf, da muss man jeden Tag sein Programm durchlaufen. Das hat mir nicht gefallen und ich habe meine Familie und meine Freunde zu Hause vermisst.“
Tiefpunkt und Neubeginn
In dieser Zeit verpasste Daniel dreimal, sich zu einem Dopingtest zu melden, und wurde für zehn Monate gesperrt. „Bei uns läuft das so: Man muss jeden Tag in ein digitales System schreiben, wo man sich befindet, damit die Doping-Kontrolleure jederzeit unangemeldet vorbeikommen können. Das habe ich in der Zeit, in der ich so viel gereist bin, zwar gemacht; aber es gab irgendwo einen Fehler und ich wurde gesperrt. Das war für mich sehr schwer zu akzeptieren.“ Aber auch aus der Sperre zog Daniel Kraft. Er ließ sich die Nase operieren, trainierte zu Hause, arbeitete an seiner mentalen Stärke. „Früher habe ich immer schlecht Luft bekommen, habe aber die OP gescheut, da ich dafür eine Trainingspause hätte einlegen müssen. Das passte dann ganz gut.“
Natürlich gibt es auch Momente, in denen Daniel kurz vorm Aufgeben ist. „Zum Beispiel bei der Sperre, da habe ich mich wirklich schwergetan, das zu akzeptieren, und habe vieles infrage gestellt. Aber ich mache regelmäßig mentales Coaching, und das hilft mir, mich zu fokussieren.“ Denn eigentlich sei er ein eher negativer Mensch, gibt Daniel zu, der oft und leicht zweifle. „Dem versuche ich aber aktiv entgegenzusteuern.“
„Ich liebe den Film und das Musical und finde mich in Billy Elliot wieder.“ Daniel Grassl
Die Kufen sind seine Flügel
Wenn er heute über das Eis gleitet, fühlt er sich frei, wie ein Vogel, der fliegt. Seine aktuelle Kür läuft Daniel zur Musik von Billy Elliot. Eine bewusste Wahl. „Ich liebe den Film und das Musical und finde mich in Billy wieder. Er liebt das Tanzen schon in jungen Jahren, wie ich das Skaten. Wenn wir es tun, fühlen wir uns frei.“
Wenn die Musik angeht ist Daniel in seinem Element. Foto: Daniel Grassl
Eine schwere Verletzung hat sich Daniel in seiner Karriere, Gott sei Dank, bisher nicht zugezogen. „Ich habe aktuell ein paar Probleme mit meinem Fuß, da ich mich etwas zu schnell nach der Pause wieder hochtrainiert habe. Aber das bekommen wir in den Griff.“ Seine Schlittschuhe trägt der 23-Jährige, wenn es gut läuft, ein Jahr lang. „Neue Schuhe einzulaufen, tut höllisch weh“, lacht er. Und einmal, als ihm während eines Turniers die Kufe brach, kostete es ihn wertvolle Punkte.
Daniels Stärken sind seine Sprungkraft, die Fähigkeit, sich blitzschnell zu bewegen, und seine fesselnde Bühnenpräsenz. „Ich liebe es einfach, mit dem Publikum zu interagieren.“ Daniel beherrscht alle Vierfach-Sprünge – drei davon sind in seiner Kür eingebaut. „Mein Ziel ist es, alle vier zu zeigen, aber im Programm ist es etwas ganz anderes, alle vier Vierfach-Sprünge zu stehen, als im Training. Sie kosten viel Kraft und die Kür ist kurz.“
Daniels größter Traum: ein olympisches Edelmetall, am liebsten schon 2026 in Mailand. Bisher war seine beste olympische Platzierung der vierte Platz in der Kür 2022 in Peking. Aber auch seine Vize-Europameisterschafts-Medaille und die vier Italien-Meisterschafts-Titel bedeuten dem jungen Meraner viel.
Wenn nachts die Gedanken übers Eis tanzen
Wenn Daniel abends im Bett liegt, beherrscht das Eislaufen seine Gedanken. „Ich überlege dann, wie ich effektiver trainieren könnte und wie ich mein Programm verbessern kann.“ Er sei einer, der vor jedem Start nervös ist. „Ich dachte, es wird mit der Zeit besser“, lacht Daniel, „aber es wird eher schlimmer.“
„Eiskunstlauf ist aktuell einfach mein Leben, da bleibt auch wenig Zeit für etwas anderes.“ Daniel Grassl
Bis 2030 möchte Daniel weiterlaufen. „Eiskunstlauf ist aktuell einfach mein Leben, da bleibt auch wenig Zeit für etwas anderes“, sagt Daniel. Das Privatleben muss also erst mal auf ihn warten. Aber alle zwei Monate kommt er nach Hause, nach Meran, in sein Elternhaus. Wo sein Hund, seine Mutter und sein Vater auf ihn warten und er Kraft tankt.
Seine Eltern sind Daniels stille Helden. Sie können seine Wettbewerbe nicht live anschauen. „Sie sehen sich meine Läufe erst an, wenn sie wissen, dass alles gut gegangen ist“, erzählt der Eislauf-Profi schmunzelnd.
In Japan wird Daniel auf der Straße erkannt, gefeiert. In Meran grüßen ihn einige. In beiden Welten bleibt er sich treu: der Junge mit den leuchtenden Augen, den Tics, der Sprungkraft – und dem unerschütterlichen Traum zu fliegen.
DIE SERIE In der Serie „Jung & hungrig“ stellt die SWZ junge Menschen in und aus Südtirol mit den verschiedensten Lebensläufen vor. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie sind jung und hungrig nach Erfolg. Alle bisher erschienenen Artikel aus der Reihe finden Sie auf SWZonline und in der SWZapp.
Aufgewachsen im Norden, studiert in Göttingen und Wien, gearbeitet in Zürich, Berlin und Hamburg. Nach elf Jahren bei der BILD ihrem Herzen und ihrem Mann in seine Südtiroler Heimat gefolgt. Liebt weite Horizonte, herzhaftes Essen, mineralischen Wein und authentische Geschichten.
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