Bozen – Jeder Personalleiter kennt die Statistiken der Abwesenheitsquoten wegen Krankheit oder Unfall: etwa 3 bis 4 % bei Arbeitern und 1,5 bis 2,5 % bei Angestellten gelten als Faustregel. Die Verbesserung dieser Kennzahlen ist ein wichtiges personalwirtschaftliches Ziel.
In den letzten Jahren sind die Abwesenheitsraten in vielen italienischen Betrieben zurückgegangen – einerseits aufgrund der allgemeinen Unsicherheit der Arbeitnehmer bezüglich der Sicherheit des Arbeitsplatzes, andererseits aufgrund der Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen zur Sicherheit am Arbeitsplatz.
Warum wird also gerade jetzt die Gesundheit der Mitarbeiter als zentrale neue Herausforderung für die Unternehmen bzw. deren Personalmanager genannt und dem Thema ein eigener Beitrag gewidmet? Aus rein betriebswirtschaftlichen Überlegungen könnte man antworten, dass die Ressource Mensch noch nie so wertvoll war wie heute: Einerseits sind die exzellenten Mitarbeiter rar, und andererseits wird jeder Betrieb nur gerademal so viele Mitarbeiter wie unbedingt notwendig beschäftigen, sodass jeder krankheitsbedingte Ausfall schmerzt. Es geht uns hier aber nicht nur um den nicht-kranken Mitarbeiter, sondern um den rundum gesunden und vitalen Menschen.
Neben der körperlichen Gesundheit geht es dabei heute immer mehr um das geistige und psychische Wohlbefinden. Und gerade dieser Aspekt der Arbeitswelt krankt am meisten. Statistiken sprechen von einer Zunahme der psychisch bedingten Fälle von Arbeitsunfähigkeit von über 40 % in den letzten zehn und von über 80 % in den letzten vier Jahren. In Deutschland werden bereits 40 % aller vorzeitigen Rentenauszahlungen aufgrund psychischer Erkrankungen geleistet (vgl. Jahresbericht der Deutschen Rentenversicherung). Obwohl vergleichbare Statistiken für Südtirol fehlen, können wir davon ausgehen, dass sich dieses Phänomen auch auf unsere Arbeitswelt übertragen lässt. In den letzten Jahren gibt es für Erkrankungen bzw. Arbeitsausfälle dieser Art die Modediagnose Burnout. Aber nicht einmal die Wissenschaft ist sich in der Beschreibung von Symptomen, Ursachen und Behandlungsmethoden einig. Der Mediziner bezeichnet Burnout als einen Zustand ausgesprochener emotionaler Erschöpfung mit reduzierter Leistungsfähigkeit (vgl. Pschyrembel klinisches Wörterbuch, 264. Auflage, 2013). Er kann als letzte Phase eines negativen Entwicklungsprozesses bezeichnet werden, der mit idealistischer Begeisterung sehr positiv beginnt und aufgrund frustrierender Erlebnisse zu Desillusionierung und Apathie, psychosomatischen Erkrankungen und Depression oder Aggressivität und erhöhter Suchtgefährdung führt.
Arbeiten macht müde – Diese Erkenntnis hatten bereits unsere Vorfahren und fanden sie absolut natürlich. Heute klagen mehr Menschen denn je aller Gesellschafts- und Berufsschichten darüber, sich müde und ausgebrannt zu fühlen. Nicht wenige sagen sogar ganz offen, kurz vor einem Burnout zu stehen, und in Deutschland schätzt man den Anteil der psychisch Kranken bereits auf 10 bis 15 % – Tendenz steigend. Der Psychiater Markus Pawelcik spricht in diesem Zusammenhang gar über eine gefühlte Epidemie, denn Burnout sei gar keine definierte, medizinisch anerkannte Gesundheitsstörung. Er hat eine viel banalere Erklärung: In ein Burnout gerät, wer seine Kräfte bzw. sein Belastungsniveau falsch einschätzt und sich deshalb im Tagesgeschäft zu sehr verausgabt, weil er nicht auf die Signale der Überforderung achtet oder seine Kräfte schlecht einteilt (vgl. M. Pawelcik: Die gefühlte Epidemie, in „Die Zeit“ vom 1.12.2011). Was können wir also dagegen unternehmen – als (potenziell gefährdeter) Mitarbeiter und als Vorgesetzter bzw. Personalmanager?
Prävention – Den wichtigsten Beitrag zur Vermeidung von körperlicher oder psychischer Erkrankung kann und muss jeder Mitarbeiter selber leisten: den achtsamen Umgang mit den eigenen Ressourcen. Die zunehmende Vermischung von Berufs- und Privatleben bzw. das „Nicht-mehr-Abschalten-Können“ verhindern die notwendige Entspannung und Erholung. Die Batterien können nicht mehr aufgeladen werden, und ein Leben und Arbeiten in einem gesunden Gleichgewicht ist nicht mehr möglich.
Organisations- und Personalentwicklung als Prävention – Was kann der Unternehmer bzw. der Personalentwickler präventiv machen, um die Mitarbeiter darin zu unterstützen, vital zu bleiben? Das Betätigungsfeld der Personalentwicklung kann grundsätzlich auf zwei Ebenen gesehen werden: Einerseits geht es um den Prozess einer generellen Bewusstseinsbildung.
Vitalität als Gegensatz zu Erschöpfung beinhaltet Lebenskraft, Lebensdynamik und Lebensfreude. All das können wir nur erlangen, wenn wir – als Basisfaktoren sozusagen – eine gesunde Balance zwischen Bewegung, Entspannung und einer ausgewogenen Ernährung in unserem Leben schaffen. Darüber hinaus ist auch das seelische und geistige Wohlbefinden notwendig, um auf Dauer vital im weitesten Sinne zu sein.
Das alles ist zunächst einmal losgelöst von der Arbeitswelt und kann deshalb auch nur bedingt – eben über Information und Bewusstseinsbildung – vom Arbeitgeber beeinflusst werden.
Die zweite Ebene betrifft den Personalmanager bzw. den jeweiligen Vorgesetzten wesentlich mehr. Es geht darum, die Gesundheit am Arbeitsplatz für jeden Mitarbeiter gezielt zu fördern. Dafür bietet die Personal- und Organisationsentwicklung verschiedene Möglichkeiten.
a) Arbeitseinsatz: Jeder Mitarbeiter sollte konsequent nach seinen Stärken eingesetzt werden. Gleichzeitig sollen die Aufgaben und Ziele herausfordernd und seiner Weiterentwicklung förderlich sein. Im Rahmen der Organisationsentwicklung soll ein systematisches Job-Rotations-Konzept verhindern, dass Mitarbeiter in ihrer Entwicklung stehenbleiben bzw. keinerlei Herausforderung in der täglichen Arbeit mehr sehen und ein sog. Bore-out riskieren, also ein Burnout aufgrund von Unterforderung. Auch in der Zusammensetzung der Arbeitsteams sollte auf den richtigen „Alters-Mix“ geachtet werden: Ältere Mitarbeiter begleiten und unterstützen jüngere und bleiben jung.
b) Ergonomische und angenehme Arbeitsplätze: Primäres Ziel einer ergonomischen Arbeitsgestaltung ist neben effizientem und fehlerfreiem Arbeiten, die Menschen auch bei langfristiger Ausübung einer Tätigkeit vor Gesundheitsschäden zu schützen. Dazu gehören neben dem adäquaten Mobiliar und der gesundheitsgerechten PC-Ausstattung auch die entsprechende Beleuchtung des Arbeitsplatzes, die richtige Belüftung, die Ausstattung mit Pflanzen usw. All das soll die Mitarbeiter nicht nur vor physischen Krankheiten (Verspannungen, Bandscheibenschäden usw.) schützen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein Gefühl des Wohlfühlens bei der Arbeit erzeugen.
c) Wertorientierte Führung: Man muss nicht gleich an „Mobbing“ denken, wenn über die Verantwortung des Vorgesetzten für die psychische Gesundheit der Mitarbeiter gesprochen wird. Jedoch haben Führungskräfte sehr viele Möglichkeiten, vor allem das psychische Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter aktiv zu fördern. Das beginnt damit, dass sie ambitionierte Ziele vereinbaren und bewusst exzellente Leistungen einfordern. Auch sollten sie regelmäßig ehrliches und wertschätzendes Feedback geben, unterstützend zur Verfügung stehen und Mitarbeiter laufend über die Strategie und die Ziele des Unternehmens informieren. Getragen wird die Führungsbeziehung von einem achtsamen Umgang mit dem Mitarbeiter als Mensch.
d) Förderung und Forderung der geistigen und körperlichen Fitness: Hier sind die gezielte Vermittlung von Informationen und das Einüben von Verhaltensweisen im Rahmen der Personalentwicklung gemeint. Die drei oben angesprochenen Themenbereiche Regeneration, Ernährung, Bewegung können über Vorträge, Seminare, Ausbildung von Multiplikatoren, Vorbildwirkung der Führungskräfte vermittelt und gelebt werden. Wenngleich die Freiwilligkeit der Mitarbeiter an der Teilnahme eine Grundvoraussetzung bleibt, ist es auch ein Recht des Arbeitgebers, darauf zu bestehen, dass gesunde Mitarbeiter ihre volle Leistung erbringen und dafür die Angebote des Unternehmens in Anspruch nehmen.
e) Thematisierung der psychischen Gesundheit: In vielen Unternehmen werden die Mitarbeiter im Jahresgespräch explizit nach der psychischen Belastung an ihrem Arbeitsplatz gefragt. Hier kommt also dem Vorgesetzen als erstem Ansprechpartner des Mitarbeiters im Falle von Überlastung und Stress eine besondere Bedeutung zu. Ein weiterer Schritt in Richtung Prävention könnte mit der Einführung eines Betriebspsychologen erfolgen. Und nicht zuletzt sollte sich auch der Personalentwickler als Ansprechpartner im Dienste der Förderung der psychischen Gesundheit der Mitarbeiter sehen.
f) Förderung und Forderung des „lebenslangen Lernens“: Noch nie war es so einfach, sich mit aktuellem Wissen zu versorgen bzw. sich Kompetenzen anzueignen. Andererseits wird aber auch die Halbwertzeit des Wissens immer kürzer. Vor dem Hintergrund der immer länger werdenden Lebensarbeitszeit bekommt das Prinzip des „life-long-learning“ immer mehr Bedeutung. Jedes Unternehmen sollte es sich zum Ziel setzen, die kontinuierliche Weiterentwicklung aller Mitarbeiter gezielt zu fördern. Gleichzeitig darf von den Mitarbeitern aber auch verlangt werden, sich aktiv an diesem Prozess des lebenslangen Lernens zu beteiligen.
g) Flexible Arbeitszeit: Je mehr Freiheit der Mitarbeiter in der Gestaltung seiner Arbeitszeiten hat, desto besser kann er auch seine Ressourcen einteilen und desto leichter schafft er es, den notwendigen Ausgleich zur beruflichen Belastung herzustellen. Die flexiblen Arbeits- und Gleitzeitmodelle in den meisten Unternehmen stellen hierzu die technischen Voraussetzungen dar; vielfach hängt es aber von Wohlwollen und Führungsfähigkeiten des Vorgesetzten ab, ob diese Möglichkeiten auch konkret genutzt werden können.
h) Medizinische Prävention und Soforthilfe: Neben den gesetzlich vorgesehenen arbeitsmedizinischen Untersuchungen könnte sich das Unternehmen zum Ziel setzen, ein weiterreichendes Programm der Gesundheitsvorsorge auszuarbeiten und entsprechende Konventionen mit Versicherungen und Gesundheitseinrichtungen abzuschließen.
Über diese beispielhaften organisations- und personalentwicklungstechnischen Aktionen lässt sich die physische und psychische Gesundheit der Mitarbeiter eines Unternehmens bewusst fördern. Dabei beschränkt sich dieser Gesundheitsbegriff nicht auf „die Abwesenheit von Krankheit“ (keine Schmerzen, keine Gebrechen), sondern meint ein „Fit-Sein“ im Sinne von Ausdauer, Stärke und Resilienz. Diese Fitness hört aber nicht an den Toren des Unternehmens auf, sondern umschließt auch das Leben abseits des Berufs. Daher kann ein ernstgemeinter Vitalitätsansatz nur ein Leben und Arbeiten im Gleichgewicht zum Ziel haben.
Info
- Burnout als Entschuldigung für den Raubbau an den eigenen Kräften.
- Burnout als unterschiedslose Zustandsbeschreibung für lebensbedrohliche Depression und für einfache Erschöpfung nach anstrengenden Arbeitsphasen.
- Burnout als Entschuldigung für mangelnde Leistungsfähigkeit aufgrund externer Umstände.
- Burnout als kulturelles Konstrukt, das widrige Lebensumstände für chronische Müdigkeit und Versagen verantwortlich macht.
- Burnout als diskreter Hinweis darauf, dass man ja mal ein cooler Hund und richtig gut war – eben gebrannt hat.
- Burnout als – nicht mehr stigmatisierendes – Etikett für individuelles Versagen.