Bozen – Die ersten Auftritte von Ivo Muser nach seiner Weihe zum Bischof im Jahr 2011 haben bei manchen Menschen in diesem Land die Befürchtung geweckt, dass da jemand berufen worden ist, der Bischofsmütze und Bischofsstab trägt wie einst weltliche Herrscher Krone und Zepter. Inzwischen hat er sein Profil als Kirchenmann geschärft und erweitert. Seine Äußerungen und sein Wirken bringen ihm viel Zustimmung, weit mehr als Kritik. Sicher: Muser ist gerne Bischof, und er zeigt dies auch. Aber der Oberhirte weiß auch, dass er immer weniger Gläubige hat und die Anzahl der Schafe seiner Herde schwindet wie der Schnee in der Märzsonne. In dieser Lage und überzeugt von der wichtigen Rolle der Kirche in einer globalisierten, schnelllebigen und individualistischen Welt, ist er bemüht, die Menschen abzuholen, aber ihnen dabei nicht nach dem Mund, sondern ins Gewissen zu reden. Er tut dies mit Blick auf die Bewahrung der Schöpfung, das Zusammenleben aller in Südtirol oder auch hinsichtlich der Rolle der Religion als Richtschnur für ethisches Handeln. Wegen seiner Stellungnahmen zu manchen Ansinnen wird ihm zuweilen politische Einmischung vorgeworfen. Das stört ihn nicht. „Die Kirche ist von ihrem Wesen her im weitesten Sinne des Wortes politisch, weil das Evangelium selber Partei ergreift und damit zutiefst politisch ist, dem Gemeinwohl verpflichtet. Es geht um verbindende und verbindliche Werte, die das Leben und das Zusammenleben der Menschen fördern“, sagt er. „Wenn zentrale Fragen des Christentums wie etwa die Würde der Person und die Nächstenliebe tangiert sind, kann und darf die Kirche nicht schweigen.“ Was diese Stimme zählt, ist eine andere Frage.
Im Gespräch entpuppt sich Muser nicht bloß als Experte in theologischen Fragen, sondern auch als vielseitig interessierter Zeitgenosse, der durchaus kritisch auf die Sünden der Kirche in der Vergangenheit (etwa in den Zeiten der Inquisition) und in der Gegenwart (Kindesmissbrauch) schaut. Aber an seiner Aufgabe und Rolle als Priester zweifelt er nicht. Schon als Kind wollte er Pfarrer werden, und er ist überzeugt, als Geistlicher den Menschen das vermitteln zu müssen und zu können, was elementar für sie ist: Sinn.
Geboren wurde Muser 1962 als dritter von drei Söhnen seiner Familie in Gais. Die Eltern waren selbstständig berufstätig, und sie haben die Kinder in christlichem Geist erzogen. Nach dem Besuch der Pflichtschule und des Gymnasiums in Bruneck studierte Muser Theologie in Innsbruck. Die Studienzeit hat ihn stark geprägt, denn in dem von den Jesuiten geführten internationalen theologischen „Collegium Canisianum“ lebte er mit über 80 Theologiestudenten aus fast allen Teilen der Welt zusammen. Die Erfahrung, „wie bunt, spannungsgeladen und lebensfördernd Kirche ist“, hat schließlich alle auftretenden Zweifel etwa in Bezug auf Ehe- und Kinderlosigkeit zerstreut. Nach Abschluss der Studien 1986 wurde er zum Diakon geweiht, nach dem Pastoraljahr in Seis von Bischof Wilhelm Egger zum Priester. Muser war anschließend Kooperator in Toblach und Sekretär des Bischofs. Dieser empfahl ihm ein Studium an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Von 1991 bis 1995 bildete er sich dort aus, zusammen mit 3.000 anderen Studenten aus 100 Staaten. Von 1996 bis 2010 war er Professor an der Theologischen Hochschule in Brixen und übte verschiedene weitere Funktionen aus, darunter die als Regens des Priesterseminars. „Meine Berufung zum Bischof war dann eine Folge von zwei unvorhergesehenen, schmerzlichen Umständen. Zuerst verschied Bischof Wilhelm allzu früh an den Folgen eines Herzinfarkts. Sein Nachfolger Karl Golser erkrankte und trat zwei Jahre nach seiner Ernennung zurück. Die Wahl fiel dann auf mich – und ich habe angenommen“, sagt Muser. 2011 wurde er zum Bischof geweiht. Mit 49 Jahren war er damals der jüngste Bischof in Italien. Als Motto für sein Wirken wählte er „Tu es Christus“ (Du bist Christus). Für ihn ist dies die zentrale Aussage des christlichen Glaubens.
Acht Jahre später ist das Umfeld, in dem sich Ivo Muser bewegt, brüchiger geworden. 1987, als er zum Priester geweiht wurde, gab es noch 450 Diözesanpriester, heute sind es gerade einmal 260 (die Zahl der Ordensfrauen ist im gleichen Zeitraum von 1000 auf 400 zurückgegangen). Und die Geistlichen sind im Schnitt 69 Jahre alt! Dies und der äußerst karge Nachwuchs lassen erahnen, dass sich die Personalnot der Kirche in absehbarer Zeit weiter zuspitzen wird. Jeder Unternehmensberater würde in dieser Lage empfehlen, in ein anderes Geschäftsfeld zu wechseln. Die Kirche kann dies nicht, und sie lässt auch in Positionen wenig Wandel zu, die viele Katholiken überdenken möchten, etwa bezüglich der Rolle der Frau oder der Sexualmoral. Unabhängig davon ist Ivo Muser überzeugt, dass die Kirche weiterhin fundamentale, zukunftsweisende Aufgaben erfüllt. Zwar gehen nur noch weniger als 20 Prozent jener, die sich Christen nennen, regelmäßig in die Kirche, und viele Menschen lassen den Papst einen guten Mann sein und basteln sich ihren eigenen Glauben, der bald mehr, bald weniger von den Lehren der Kirche abweicht. Aber Bischof Ivo ist überzeugt, dass die Kirche die Flinte nicht ins Korn werfen darf, weil sie es ist, „die Halt geben kann – von Christus her. Heute ist eine sehr individualistische Sicht des Lebens und des Menschen verbreitet, wir leben in einem Spannungsverhältnis, in dem das Ich das Wir nach und nach in den Hintergrund zu drängen droht. Was verbindlich, unabänderlich, nicht verhandelbar ist, wird abgelehnt, eine Freiheit ohne Schranken verkündet. Aber wohin führt das? Findet der Mensch darin sein Glück? Haben Schöpfung und Menschheit damit eine Zukunft?“
In Beantwortung dieser seiner eigenen Frage verweist Muser auf die „Laudato si’“, die Umweltenzyklika von Papst Franziskus. „Immer mehr, das geht nicht, das ist mit Blick auf zukünftige Generationen nicht tragbar. Das beginnen die Menschen angesichts des enormen Ressourcenverbrauchs durch unsere Lebensweise zu erkennen. Wir bewegen uns ökonomisch und ökologisch auf dünnem Eis. Ich wünsche mir nicht, dass es bricht, aber ich hoffe, dass das notwendige Umdenken auch zu einer Rückbesinnung auf jene Werte führt, für die der christliche Glaube steht. Und dieser stellt irdische Güter nicht in den Mittelpunkt und verpflichtet dazu, diese so zu gebrauchen, dass wir darüber die himmlischen nicht verlieren, wie es in der Bibel heißt.“
Wirtschaft und Christentum wie Feuer und Wasser also? Keineswegs, sagt der Bischof. „Wenn der Papst sagt, diese Wirtschaft töte, dann meint er nicht die Wirtschaft im Allgemeinen, sondern eine bestimmte Art zu wirtschaften, denn diese hat zerstörerische Exzesse geboren. Wenn das Evangelium fordert, nach dem zu trachten, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist, dann bedeutet das nicht, dass jeder sein Leben allein auf das Jenseits richten soll. Es geht immer um die Verhältnismäßigkeit. Wir können ohne wirtschaftliche Aktivitäten nicht leben, aber diese dürfen nicht zum Selbstzweck werden. Franz von Assisi, dem die Armut seiner Brüder heilig war, wusste, dass wir nur dort um etwas bitten können, wo es Menschen gibt, die etwas haben und bereit sind zu teilen. Wir brauchen Menschen, die beginnen, anders zu denken und zu handeln, die uns einen Spiegel vorhalten und die uns daran erinnern, dass es nicht bloß das Haben gibt und das Immer-mehr-haben-Wollen, sondern auch ein erfülltes Sein. Und das Sein ist wichtiger als das Leisten und das Haben!“
Aber wie präsentiert sich diesbezüglich die Kirche, die viel Besitz hat und frei nach Heinrich Heine einen großen Magen? Bischof Muser weiß um die Problematik, um die bleibende Spannung. Er versucht, sie mit dem Hinweis zu entschärfen, dass ihr Besitz es der Kirche ermöglicht, im Geiste des Evangeliums zu wirken und auch eine soziale Funktion zu erfüllen. „Die Kirche selber muss sich im Umgang mit den irdischen Gütern vom Evangelium her immer wieder infrage stellen und auch von außen kritisieren lassen“, stellt er fest. Diese Feststellung könnte man als diplomatisch bezeichnen.
Eine Botschaft ist für Bischof Ivo Muser essenziell: „Wir brauchen Leader, die nicht Ängste schüren, sondern die Visionen haben; die nicht spalten, sondern verbinden. Und diese sollten an Werten ausgerichtet sein, die auf dem christlichen Glauben beruhen. Weil dieser Glaube an einen menschgewordenen Gott uns und unserer Gesellschaft guttut.“