Bozen – Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, heißt es. Doch trifft das auch auf die Erfassung der Arbeitszeiten der eigenen Mitarbeitenden zu? Für viele Beschäftigte klingt diese nach Stechuhr und Überwachung, also nach kaum noch zeitgemäßen Konzepten – besonders angesichts des Siegeszuges von Homeoffice und anderen flexiblen Modellen.
Tatsächlich hat das Erfassen der Arbeitszeit eine lange Tradition. Doch Anlass und Zweck haben sich stark verändert. Im 19. und 20. Jahrhundert zielten Unternehmer darauf ab, Arbeitskräfte möglichst systematisch und strukturiert in die Arbeitsprozesse einzugliedern, um Schichtarbeit zu planen und geleistete Arbeitsstunden kontrollieren zu können.
Heute geht es bei der Erfassung von Arbeitszeit in den allermeisten Fällen nicht mehr um Überwachung, sondern um Transparenz, auch zum Schutz der Arbeitnehmer:innen vor unbezahlter Mehrarbeit. Außerdem dient sie den Unternehmen als Instrument, um gesetzliche Vorgaben einzuhalten, etwa die Höchstarbeitszeiten oder Urlaube. Obwohl das Thema also kein neues ist, scheidet es nach wie vor die Geister: Lautstarke Befürworter und Gegner stehen sich gegenüber. Zumindest die Theorie scheint klar zu sein.
Die gesetzliche Lage
Im Mai 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof, dass Arbeitszeiten durch technische Vorgaben kontrolliert werden müssen. Demnach sind die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, ein System zu errichten, in dem nachvollziehbar und fälschungssicher die Arbeitszeiten von Mitarbeitenden erfasst werden. Dies soll dem Schutz der Beschäftigten vor Überarbeitung dienen. Ausgangspunkt war die Klage der spanischen Gewerkschaft CCOO gegen die Deutsche Bank SAE gewesen.
Während das Urteil in Deutschland ob der passenden Umsetzung teils heftige Diskussionen auslöste, ist Italien nicht in der Pflicht. „Die nationale Regelung reicht bereits aus“, so SWZ-Arbeitsrechtsexperte Josef Tschöll. Die Arbeitszeit wird über das zweiteilige Einheitslohnbuch erfasst, das aus Lohnstreifen und der Dokumentation von Präsenzen bzw. Abwesenheiten besteht. „Der Arbeitgeber muss diese Daten erheben, ob das präzise erfolgt oder nicht, ist ein anderes Kapitel“, sagt Tschöll. Allerdings, gibt er zu bedenken, passe der Schutzanspruch der Regelung in einigen Bereichen nicht mehr mit der Realität zusammen, vor allem in jenen, in denen ergebnisorientiert gearbeitet wird.
Was ist eigentlich Arbeit?
Die Praxis gestaltet sich heute nicht nur deshalb als komplex. In einer Welt, in der die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem zunehmend verschwimmen, müsste zuerst klar definiert werden, was genau Arbeit ist, bevor die Zeit gemessen werden kann, in der gearbeitet wird.
Nicht nur bei Bereitschaftsdiensten kann Arbeit ein fließender Zustand sein. Wenn jemand bei einem Spaziergang über ein berufliches Problem nachdenkt und endlich eine Lösung findet, kann das durchaus auch als Arbeit gewertet werden. Noch alltäglichere Beispiele sind das Lesen der Mails auf dem Weg ins Büro oder das Entgegennehmen eines Anrufs nach Feierabend: Moderne Technologien haben dazu geführt, dass wir immer erreichbar sind.
Hinzu kommt, dass mehr Beschäftigte denn je Remote Work nutzen, wo eine weitere Entgrenzung der Arbeitszeit droht bzw. effektiv stattfindet. „Gerade hier wäre es wichtig, für eine korrekte und systematische Erfassung zu sorgen“, sagt Barbara Jäger, Gründerin und Gesellschafterin von Business Pool. „In der Praxis passiert das bisher aber selten – es wird noch viel experimentiert.“
Die Umsetzung macht’s
Verschiedene Dinge auszuprobieren ist auch deshalb oft unumgänglich, weil es keine pauschale Lösung bzw. absolute Wahrheit bei dem Thema gibt.
Nichtsdestotrotz tendiert die Diskussion um die Zeiterfassung – ähnlich wie jene ums Homeoffice – in Entweder-oder-Kategorien geführt zu werden. Dadurch wird außer Acht gelassen, dass die richtige Lösung für ein Unternehmen stark von der Größe des Unternehmens, der Branche und den jeweiligen Tätigkeiten der Mitarbeitenden abhängt. „Prinzipiell bin ich eine große Befürworterin von Flexibilität. In gewissen Bereichen geht es aber nicht ohne Zeiterfassung“, erklärt Elisa Benedetti, ehemalige Lidl-Managerin und heute in leitender Position in Südtirol tätig. Dazu zählen etwa Produktionsabteilungen oder große Distributionszentren.
Entscheidet sich ein Unternehmen für die Zeiterfassung, geht es im nächsten Schritt um die passende Umsetzung. Die bekanntesten Wege und Hilfsmittel sind:
Der klassische Stundenzettel – Mitarbeitende können händisch vermerken, wie viele Stunden sie gearbeitet haben und nach Bedarf andere Informationen ergänzen. Die Bögen zu kontrollieren, die Stunden zusammenzuzählen, Überstunden zu berechnen und die Daten am Ende an die Lohnbuchhaltung weiterzugeben, ist aber mit großem Aufwand verbunden.
Einfache Erfassung mit Excel – In Excel gibt es zahlreiche Vorlagen für die Arbeitszeiterfassung. Auf diese Weise können einige Routinen und Berechnungen ohne großen Aufwand automatisiert werden. Nichtsdestotrotz ist eine häufige Nachkontrolle nötig.
Die Stechuhr – Mittlerweile nutzt man kaum mehr mechanische Geräte, sondern computergesteuerte, an die eine Magnetkarte oder ähnliches gehalten wird.
Digitale Erfassung mittels Software/App – Mit derartigen Tools sind der Vergleich von Plan- und Ist-Kosten sowie die Messung der Mitarbeiterleistung einfach zu vergleichen. Nachkontrollen entfallen weitgehend und die Übertragung der Daten erfolgt weitgehend digital.
Nicht minder wichtig sind die Arbeitszeitmodelle, zwischen denen ein Unternehmen wählen kann. Wie, wann und wo gearbeitet wird, hat natürlich Einfluss darauf, was überhaupt als Arbeitszeit gilt. „Die Firmen haben großen Spielraum, entsprechend sehen wir in der Praxis sehr viele verschiedene Formen“, sagt Jäger.
Selten geworden seien fixe Arbeitszeiten, außer in bestimmten Bereichen wie Produktionsabteilungen oder anderen Schichtbetrieben. Immer mehr Betriebe würden sich für Gleitzeiten entscheiden oder gar nur eine Wochenarbeitszeit vorgeben, die die Mitarbeitenden frei einteilen können. „Für alle gilt: Flexibilität ist das oberste Gebot“, betont Jäger.
Zeiterfassung schließt Flexibilität nicht aus
In Bezug auf ebendiese Flexibilität herrsche allerdings ein großer Irrtum vor. „Sie wird oft mit der Abschaltung der Zeiterfassung verwechselt“, berichtet Jäger.
Dabei kann es auch bzw. gerade innerhalb der flexiblen Modellen sinnvoll sein, Arbeitszeiten zu erfassen, um zum Beispiel ein Gefühl für benötigte Kapazitäten zu bekommen. Dies geht – anders als oft angenommen – mit einem Mehr an Führung einher. „Flexibilität“, sagt Elisa Benedetti, „ist erst dann möglich, wenn ein Unternehmen reif ist – und zur Reife gehört gute Führung.“
Das Motto dürfe nicht sein: Solange niemand schreit, ist alles in Ordnung. Führungskräfte müssen umso näher an ihren Teammitgliedern sein, um eventuelle Überlastungssituationen oder ein Ungleichgewicht zwischen dem Arbeitspensum der Mitarbeitenden rasch erkennen zu können. Eine faire Umsetzung ist das A und O. Wichtige Punkte, die es zu klären gilt:
- Überstundenerfassung,
- Struktur für Meetings,
- feste Zeiten für Freizeit und
- klare Grenzen gegen ständige Erreichbarkeit.
Was bringt die Zukunft?
In Zukunft wird Flexibilität noch wichtiger werden. Entsprechend wird sich dort, wo es möglich ist, ergebnisorientiertes Arbeiten durchsetzen, so die Einschätzung von Fachleuten. Gerade in jenen Branchen, in denen sich Ergebnisorientierung gut umsetzen lässt, sind Unternehmen experimentierfreudig.
SAP in Deutschland etwa bietet ausschließlich Vertrauensarbeitszeit und dazu eines der größten Programme in Bezug auf Achtsamkeit und Wohlbefinden in der deutschen Industrie. Die Mitarbeitenden sollen so den richtigen Umgang mit der maximalen Flexibilität, neuen Medien und Informationsflut lernen. Zu den Flexibilitätsangeboten zählen Zeitwertkonten, Sabbaticals und Nichtverfallbarkeit von Resturlaub.
„Dadurch, dass wir die Gleichung ‚mehr Präsenz ist gleich mehr Arbeit gleich mehr Leistung gleich mehr Karriere‘ abgeschafft haben, ist Mehrarbeit für die Mitarbeiter nicht erstrebenswert. Diesen Karriereanreiz aus der analogen Welt gibt es bei uns einfach nicht mehr“, erklärt Cawa Younosi, Personalchef bei SAP Deutschland gegenüber haufe.de. „Als Führungskraft brauche ich nicht mehr Präsenz, sondern mehr begeisterte Mitarbeiter, die gern zur Arbeit kommen und sich als Mensch gesamtheitlich angenommen fühlen.“