Das große Vergessen
2017 war wie 2016. Und 2015. Und all die anderen Jahre, seit es mein Beruf ist, das tägliche Geschehen in Südtirol, Italien und der Welt zu beobachten, einzuordnen, zu analysieren, zu verstehen (zumindest versuche ich das) und weiterzuerklären (auch das versuche ich nach bestem Wissen und Gewissen). 2017 war wie die Jahre zuvor, weil mich die Flut an Ereignissen regelrecht überfordert hat – und nicht nur mich. Und so bleibt mir von 2017 in erster Linie in Erinnerung, dass wir – oh Schande – so vieles vergessen haben. Unser Vergessen ist stärker als unser Erinnern. Themen kommen – und versinken dann urplötzlich im Themenmeer, weil andere Themen auftauchen. Wir Medienmacher tragen daran freilich eine große Mitverantwortung. Wir lassen uns treiben von der Flut an Ereignissen, anstatt öfter mal nach Themen zu tauchen, die soeben noch wichtig waren und dann im Meer des Vergessens untergegangen sind.
Beispiel Flüchtlinge: Im ersten Halbjahr 2017 war der Notstand das Dauerthema schlechthin. Dann verschwanden die Flüchtlinge von einem Tag auf den anderen aus den Schlagzeilen, als wäre das Problem gelöst. Gelöst ist aber gar nichts, sondern nur von der italienischen an die afrikanische Küste verlagert.
Beispiel Syrien: Alles in Butter im Bürgerkriegsland? Monate-, nein jahrelang beschäftigten uns die Kriegsleiden der dortigen Bevölkerung, dann verschob sich das Interesse anderswohin, zum Beispiel nach Nordkorea. Kurzzeitig tauchte Syrien in diesen Tagen aus der Versenkung auf, weil Wladimir Putin seine Truppen abzieht. In Butter ist aber gar nichts im zerstörten Land.
Beispiel Nordkorea: Wochenlang bestimmte Diktator Kim Jong-un im Sommer 2017 die Medienberichterstattung, weil er eine ernste Gefahr für die Welt sei. Plötzlich verschwand Nordkorea dann dorthin, wo es zuvor jahrelang gewesen war, nämlich ins Reich der Nichtbeachtung –
obwohl die Gefahr nicht kleiner geworden ist.
Beispiel Gaza: Zwar hat Donald Trump mit seiner Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt von Israel den Nahen Osten in die Schlagzeilen zurückgespült. Aber wer redet noch von den Missständen im Gazastreifen, wo Menschen leben wie in einer Konservendose?
Was treibt Recep Tayyip Erdogan in der Türkei? Sind alle politisch Gefangenen frei, dass die Empörung über den türkischen Präsidenten verstummt ist? Was ist mit der islamistischen Terrormiliz Boko Haram und ihren Mädchen-Entführungen in Nigeria? Warum ist die schreckliche Hungersnot im Jemen aus den Schlagzeilen verschwunden? Wie geht’s den Griechen auf ihrem Weg aus der Krise? Wie ist die Lage in Venezuela? Wie die Situation in der Ukraine? Und wie jene in den Erdbebengebieten in Mittelitalien?
Das sind nur ein paar Beispiele. Auch an dieser Stelle vergesse ich das allermeiste des Vergessenen. Es ist eine erschreckende Sprunghaftigkeit, welche das Mediengeschäft des dritten Jahrtausends bestimmt. Diese Sprunghaftigkeit bedingt eine unerfreuliche Oberflächlichkeit – eine Oberflächlichkeit, die nicht nur die (meisten) Medien dominiert, sondern auch die (meisten) Menschen. Aber vielleicht ist sie schlicht unausweichlich in einer Welt, die durch das Internet kleiner geworden ist. Themen kommen und gehen. Die Zeit, uns bei einem Thema länger aufzuhalten, haben wir nicht.
Etwas, was wir ebenfalls viel zu oft vergessen, sollten wir aber nicht vergessen: Es geht uns überdurchschnittlich gut in Südtirol, den allerallerallermeisten von uns. Es ist ein Glück, auf diesem Flecken Erde zu leben, ein Glück, das uns in den Schoß gefallen ist. Zumindest das sollten wir ein bisschen weniger vergessen.
Christian Pfeifer
Von Achammer bis Verkehr
So einen persönlichen Jahresrückblick zu verfassen, ist nicht so einfach, wie man meinen möchte. Es geht um Fragen wie: Wie persönlich soll er werden? Soll er sich auf Südtirol beschränken – oder global sein? Soll es um Politik, Wirtschaft, Gesellschaftliches, Sport oder Naturkatastrophen und menschgemachte Tragödien gehen? Was ist relevant genug, um es in einem Jahresrückblick zu beleuchten? Soll ein Thema in den Mittelpunkt gestellt oder viele Themen angesprochen werden?
Nun denn, ich habe mich für Südtirol als geografische Eingrenzung entschieden – denn warum in die Ferne schweifen, wenn auch hierzulande so viel Rückblickenswertes geschehen ist? Allem voran die „Hochzeit des Jahres“ von SVP-Obmann und Landesrat Philipp Achammer und Ex-Miss-Südtirol Nicole Uibo.
Erwähnenswert auch der Beschlussantrag der Grünen im Landtag, in dem sie forderten, öffentlich geförderte Wellnessanlagen mit Saunabereich sollten von der Landesregierung verpflichtet werden, einmal wöchentlich eine „Damensauna“ anzubieten. Die Grünen haben auch angeregt, nach dem Vorbild des Bücherschecks einen „Frauenscheck“ einzuführen, durch den ein Teil der Kosten für Binden, Tampons etc. gedeckt werden könnte. M5S-Landtagsabgeordneter Paul Köllensperger dagegen wollte das „Whistleblowing in der öffentlichen Verwaltung“ in Südtirol geregelt wissen. Und BürgerUnion-Vertreter Andreas Pöder forderte zum Thema Ausländerkriminalität, „Flüchtlingsgelder zur Entschädigung einheimischer Kriminalitäts-Opfer“ zu verwenden.
Apropos Landtag: Der Freiheitliche Pius Leitner ist nach seiner gerichtlichen Verurteilung wegen unsachgemäßer Verwendung von Fraktionsgeldern von seinem Mandat zurückgetreten, inzwischen wurde er in zweiter Instanz vom Vorwurf freigesprochen.
Indes haben Wolf, Bär und das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat Landwirtschaft und Politik beschäftigt, die Kampagne „Pestizidtirol“ des Umweltinstituts München im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl die heimischen Touristiker. Die konnten aber auch Rekorde bei Ankünften und Nächtigungen feiern, wobei zugleich die verstopften Straßen durch an-, ab-, umher- und durchreisende Gäste für Kopfzerbrechen sorgen. Der ebenfalls boomende Südtiroler Export tut das Seinige zum regen Verkehrsaufkommen. Zumindest wurden die Weichen dafür gestellt, dass die Konzession für die Brennerautobahn im Land bleibt. Was das für den oft geforderten Bau einer dritten Fahrspur bedeutet, wird sich zeigen.
Die lange diskutierte „Sperre der Dolomitenpässe“ wurde heuer im Juli und August erstmals umgesetzt –
wenn auch eng begrenzt: Das Sellajoch wurde an Mittwochen von 9 bis 16 Uhr für einen großen Teil des motorisierten Verkehrs gesperrt.
SAD-Boss Ingomar/Ingemar Gatterer hat regelmäßig bei seinen Mitarbeitern, der öffentlichen Verwaltung und den Nutzern des öffentlichen Nahverkehrs für Aufregung gesorgt, und sich zudem als möglichen zukünftigen Betreiber des Bozner Flughafens ins Spiel gebracht.
Oje, nun geht der Platz zu Ende, und ich habe so vieles noch nicht angesprochen: den Doppelpass, die Raumordnungsreform, den Autonomiekonvent, die Schwierigkeiten in der Sanität, Impfgegner bzw. Aktivisten für die Impffreiheit, die Flüchtlingsproblematik und Dramen rund um Flüchtlinge, die sich auch in Südtirol abgespielt haben …
Auch 2017 ist wieder vieles geschehen, regional, national, international. Manches war gut, manches mittelmäßig, anderes schlecht bzw. schrecklich oder erschreckend. Genauso wird es auch 2018 werden – wobei jeder Einzelne das seine dazutun könnte, damit der Anteil des Guten steigt und der des Schlechten sinkt.
Simone Treibenreif
Die Wolken im Sonnenland
2017 war ein ereignisreiches und zugleich spannendes Jahr mit ungemein vielen Ereignissen, welche die Zukunft im Kleinen wie im Großen mitbestimmen.
Mit großem Interesse habe ich das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien verfolgt, zumal es viele Parallelen zu Südtirol gibt. Dabei geht es mir um zwei Fragen. Erstens: Ist die Abspaltung einer Region von einem EU-Mitgliedsstaat angesichts eines wie immer gearteten, aber in einem internationalen Kontext notwendigen Zusammenwachsens europäischer Staaten anachronistisch? Oder entspricht sie in unsicheren Zeiten einem natürlichen Bedürfnis nach Nähe und nach dem, was uns vertraut ist?
Angesichts der Tatsache, dass sich die USA der America-first-Doktrin verschrieben haben und ihr nationales Heil in einer stärkeren wirtschaftlichen und militärischen Abnabelung erblicken, scheint eine stärkere Integration Europas unausweichlich, wenn der alte Kontinent nicht gegenüber den alten und neuen Großmächten ins Hintertreffen geraten will.
Dazu kommt eine zweite Frage: Welche Chancen hat ein Abspaltungsversuch in stressfreien Situationen und angesichts der Tatsache, dass die Verfassungen mancher Staaten wie Spanien und Italien ein solches Unterfangen ausdrücklich untersagen (was wenig demokratisch ist)? Madrid hat die abtrünnige Region auf seine Art zur Räson gebracht – und Europa hat zwar das rigorose Vorgehen als übertrieben eingestuft, stand aber in der Sache geschlossen hinter Spanien. Was bleibt, ist ein Scherbenhaufen und die Aussicht, dass Spanien aus den Fehlern lernt und den Katalanen mehr Autonomie einräumt – oder am Ende gar Gewalt steht. Das Unabhängigkeits-Abenteuer von Carles Puigdemont ist ein Fingerzeig für Südtirol, das auch ein wenig an der Realpolitik in einem befriedeten Land zu zweifeln scheint und selbstgebrauten Wunschvorstellungen nachhängt.
In diese Optik passt auch die Aufnahme des Südtiroler Wunsches nach einer zweiten Staatsbürgerschaft in das Koalitionsabkommen der neuen österreichischen Regierung. Allerdings geht dort davon die Rede, dass diese Möglichkeit geprüft werden soll. Da liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine politische Floskel handelt, die es den Freiheitlichen erlaubt, das Gesicht zu wahren. Es wäre eine große Überraschung, wenn die Doppelstaatsbürgerschaft wirklich umgesetzt würde, zumal damit Implikationen und Komplikationen zuhauf verbunden sind.
Vor diesem Hintergrund macht die Renaissance faschistischer Ideologien Angst, die sich abzeichnet. Diese Denkart ist gekennzeichnet von Unduldsamkeit, ja Hass auf alle, die eine andere Meinung vertreten. Dahinter stecken eine Geringschätzung der Demokratie und die Bereitschaft, Gewalt an die Stelle von Dialog und Mehrheitsentscheidungen zu setzen. Wenn der Respekt vor der ohne Drohungen geäußerten Meinung anderer nicht mehr als Wert akzeptiert wird, um den sich Europa seit der Aufklärung bemüht hat, ist Sorge Bürgerpflicht. Sprüche wie „in die Fresse hauen“, „jagen“ oder gar „an die Wand stellen“ feiern in politischen Debatten fröhliche Urständ. In den 1920er Jahren haben Schwarzhemden unseren Vorfahren Rizinusöl verabreicht. Heute marschieren deren geistige Erben wieder in Versammlungen Andersdenkender – und es scheint absehbar, dass sie es nicht bei verbalen Erklärungen belassen, wenn der Staat nicht energisch eingreift.
Rückblickend gibt es eigentlich sehr viel Positives zu berichten, wobei die Vollbeschäftigung als Voraussetzung für Frieden und Wohlstand besonders zählt. Nur: Der Wert von Rückblicken besteht nicht in der Erinnerung an das, was vorgefallen ist, sondern in dem, was wir daraus lernen.
Robert Weißensteiner
Gut gelaufen, schlecht gelaufen!
Den netten Titel „Gut gelaufen, schlecht gelaufen!“ trägt ein Buch, das ich und mein dreijähriger Sohnemann jüngst vom bibliothekarischen Beutezug mit nach Hause geschleppt haben. Es erzählt die bekannte Geschichte vom halbleeren und halbvollen Wasserglas in neuen Bildern: Ein Hase lädt die Maus zum Picknick ein. Beginnend mit einem Wetterumschwung eskaliert der Ausflug, und die beiden rutschen von einer schrägen Situation in die nächste. Der Hase ist der Optimist. Dauerlächelnd versucht er, immer das Beste zu sehen. Das ist auch leicht, denn ihm ist das Glück hold. Die Maus hingegen ist ausgewiesene Pessimistin, und ausgerechnet sie erwischt natürlich unter Hunderten herunterregnenden Äpfeln den Apfel mit Wurm. Die Geschichte gefällt Kindern, wie ich beobachte. Vielleicht weil sie gewitzt die Emotionsumschwünge zeigt, die kleine Wesen im Laufe eines Tages oft und manchmal auch radikal mitmachen – und ihre Eltern gleich mit. Sie ist aber auch für große Menschen gemacht. Das Leben bietet viele Wendungen, und ein Jahresrückblick lässt viele unterschiedliche Schlüsse zu: Ist das Jahr gut gelaufen oder schlecht? Oder besser gefragt: Was ist gut gelaufen und was schlecht? Ich muss gestehen, ich stehe nicht so auf Jahresrückblicke. Für Nachrichtenmenschen wie uns Journalisten ist es angesichts der Fülle an Nachrichten, die so ein Jahr produziert, mitunter nicht ganz leicht, einfach etwas aufzuzählen. Vor allem kann der Schluss niemals objektiv ausfallen. Ich will es kurz versuchen. Da sind zum einen die „bad news“, die es gemäß dem Verkaufsargument „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ auf die Titelseiten schaffen. Der Winter in Aleppo oder die Flüchtlingstragödie des kurdischen Einwandererbuben Adan gehören in diese Kategorie. Auch von den guten Nachrichten gab es 2017 viele: Der IS wurde weitgehend besiegt, und Südtirols Arbeitslosigkeit ging weiter zurück – um nur zwei zu nennen. Leider wird es in dieser Kategorie zunehmend seichter, weshalb aus Südtiroler Sicht wohl auch die „Hochzeit des Jahres“ von Landesrat Philipp Achammer und seiner Miss Nicole Uibo hier hinein gehört.
Und dann gibt es noch diese Nachrichten, die weder gut noch schlecht sind. Sie sind ganz einfach gefaked.
2017 hat der Duden, das wichtigste deutsche Wörterbuch, den Begriff Fake News in seinen Katalog aufgenommen. Fake News sind „in den Medien und im Internet, besonders in den Social Media, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen“, schreibt unser alter Freund, der Duden. Es ist vor allem dieser Eindruck, den ich aus 2017 mitnehme: Unsere Arbeit ist schwieriger geworden! Glaubwürdige Fakten und seriöse Berichterstattung, egal, ob es sich um gute oder schlechte Nachrichten handelt, finden immer weniger Anklang. „Lügenpresse“ war übrigens auch ein Wort, das der Duden 2017 übernommen hat. Die Tatsache, dass fast 57 Prozent der Europäer den klassischen Medien misstrauen, ist erschreckend und erklärt – wenn auch nicht vollständig – den ebenfalls erschreckenden Rückgang der Auflagen von Zeitungen und die immer niedrigeren Einschaltquoten von Rundfunksendungen, die auf fundiertem Journalismus bauen. Aus 2017 nehme ich die Erkenntnis mit, dass wir 2018 unseren Job ganz einfach noch besser erledigen müssen. Übrigens: Am Ende der Geschichte, nachdem wirklich viel passiert ist, hat der Hase seinen Optimismus verloren. Bis die Maus einsieht, dass es zu bedrückend ist, wenn beide Trübsal blasen, und den Hasen mit einer Einladung zum Picknick aufmuntert.
Hannes Peintner